Wahlkampfveranstaltung in Ankara: Opposition lädt zur Party im Regen

Vor der Wahl kommen unzählige Menschen zu Reden der Opposition nach Ankara. Erdoğan erklärt, er werde das Wahlergebnis respektieren.

Eine Menschenmenge, in der die Lichter vieler Smartphones aufleuchten

Bei Einbruch der Dunkelheit schalten Tausende die Lichter ihrer Handys an Foto: Tunahan Turhan/dpa

ANKARA taz | Die Größe des Wahlbündnisses, das die türkische Opposition geschmiedet hat, sorgt am späten Freitagabend in Ankara für ein erstes Problem. Während bei der Wahlkampfveranstaltung der Allianz hunderttausende Menschen auf den Präsidentschaftskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu warten, ziehen am Himmel dunkle Gewitterwolken auf. Der Kandidat lässt seinen sechs Ko­ali­ti­ons­part­ne­r*in­nen den Vortritt bei den Reden, Kılıçdaroğlu schreitet erst nach mehr als drei Stunden Wartezeit auf die Bühne und übernimmt das Mikrofon – fast zeitgleich mit ihm setzt der Regen ein.

Doch die Allianz der Nation, wie sich das Oppositionsbündnis nennt, sendet bei ihrer letzten gemeinsamen Wahlkampfveranstaltung vor den Abstimmungen am Sonntag nochmal ein Signal aus: Alle sechs Parteien, von Nationalisten über Kemalisten bis zu den Religiösen im Bündnis, stehen hinter Kemal Kılıçdaroğlu. Auf dem zentralen Tandoğan-Platz in Ankara und den umliegenden Straßen ist kaum ein Durchkommen. Unzählige Menschen sind gekommen, um in Sprechchören die Abwahl Recep Tayyip Erdoğans zu fordern.

Auf dem Platz ist ein riesiges Meer aus türkischen Flaggen und blauen Wimpeln des Oppositionsbündnisses zu sehen. Für die Leute hier ist klar: Kemal Kılıçdaroğlu wird am Sonntag der 13. Staatspräsident der Türkei. Eine Umfrage des Instituts Türkiye Raporu sah am Freitag Kılıçdaroğlu mit 50,5 Prozent der Stimmen vorne. Erdoğan wurde demnach bei 45,6 Prozent gesehen, der Nationalist Sinan Oğan bei 3,9 Prozent. Türkiye Raporu hat nach eigenen Angaben 1500 Wahlberechtigte befragt, nachdem sich der vierte Kandidat Muharrem Ince am Donnerstag aus dem Rennen um die Präsidentschaft zurückgezogen hatte.

Käme es wirklich so, wie das Institut prognostiziert, wäre es geschafft: Kemal Kılıçdaroğlu wäre im ersten Wahlgang zum neuen Präsidenten der Türkei gewählt. Doch als ebenso wahrscheinlich gilt, dass keiner der Kandidaten die notwendige absolute Mehrheit am Sonntag erhält, was bedeuten würde, dass es am 28. Mai zu Stichwahlen kommt. Umfrageergebnisse sind in der Türkei eine fast so schwache Währung wie die Lira: Inflationär viele Institute kommen mit Ergebnissen mit einer Varianz von bis zu 10 Prozentpunkten um die Ecke.

Die Menschen auf dem Platz in Ankara wollen Klarheit so schnell es geht, sie zeigen sich siegessicher. Auf einem großen Plakat steht: „Wir gewinnen in der 1. Runde“. Auch Kemal Kılıçdaroğlu sagt das, als er wie ein Popstar gefeiert die große Bühne unter Nebelschwaden, buntem Scheinwerferlicht und mit lauter Musik betritt. Er fragt in die jubelnde Menge: „Seid ihr bereit, diesem Land Frieden zu bringen? Seid ihr bereit, für ein friedliches Zusammenleben in diesem Land? Ich verspreche, ich bin bereit. Ich werde für dieses Land arbeiten, für die Menschen in diesem Land. Wir werden die Demokratie bringen.“

Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu

„Wir haben Vertreter in allen Wahllokalen im Land. Geht in Frühlingsstimmung zur Wahl. Lasst eine festliche Stimmung aufkommen.“

Hier gleicht nichts einer Bür­ge­r*in­nen­sprech­stun­de im Bundestagswahlkampf. Alle Politiker*innen, die auf die Bühne kommen, verstehen sich im Showgeschäft. Sie interagieren mit dem Publikum, stellen Fragen, lassen sich die Antworten dreimal bestätigen. Parallel läuft für mehr als drei Stunden die Hymne der Opposition in Dauerschleife, sie wurde für Kılıçdaroğlu komponiert und enthält ein Versatzstück einer Rede von ihm: „Ich bin Kemal, ich komme.“

Trotz des immensen Andrangs in Ankara wird in vielen türkischen Medien die Oppositionsveranstaltung am Freitagabend kaum thematisiert. Viel prominenter ging es bei Hürriyet und Co. um ein Telefonat Erdoğans mit Muharrem Ince, dem Kandidaten, der sich aus dem Wahlkampf zurückgezogen hatte. In einer Runde mit mehr als zehn Jour­na­lis­t*in­nen sagte der amtierende Präsident bei TV 100 zudem, er werde das Wahlergebnis respektieren. „Wer das Ergebnis der Wahlurne nicht respektiert, hat keinen Respekt vor der Nation. Wir haben den Vorrang des nationalen Willens nie infrage gestellt. Unsere Allianz wird jedes Ergebnis der Wahlurne als legitim akzeptieren.“

Die Wahlbeobachter*innen-Mission der Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit (ODIHR) kritisierte in ihrem Zwischenbericht unterdessen intransparente Entscheidungen der Wahlbehörde YSK und „unverhältnismäßigen und selektive“ Vorgehensweisen, die in den vergangenen Jahren gegen oppositionelle Medien gerichtet gewesen seien.

Doch die Opposition gab sich auch in dieser Frage am Freitag bei ihrer letzten gemeinsamen Wahlkampfveranstaltung kämpferisch, Kemal Kılıçdaroğlu sagte, die Allianz setze sich seit anderthalb Jahren für die Sicherheit der Wahllokale ein. „Wir haben Vertreter in allen Wahllokalen im Land. Geht in Frühlingsstimmung zur Wahl. Lasst eine festliche Stimmung aufkommen.“

Festlich wird die Stimmung am Freitagabend auch auf dem Tandoğan-Platz nach seiner Rede. Nachdem alle Po­li­ti­ke­r*in­nen gesprochen haben, wird die Musik nochmal lauter gedreht und Hunderttausende Menschen tanzen zu dem Song „Ankaralı“ von Fahrettin Tuyan und Veli Erdem Karakülah – im strömenden Regen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.