Türkischer Wahlkampf in Deutschland: (K)ein radikaler Wunsch

Sibel Yiğitalp und Gülizar Karagöz leben in Berlin. Aus dem Exil machen sie Wahlkampf gegen Erdoğan – für Menschenrechte und Demokratie.

Frauen mit angespannten Gesichtern schauen in einem Raum in die gleiche Richtung

Hoffen und Bangen: Tür­k*in­nen treffen sich zur ersten Wahlrunde in einer Kneipe in Berlin Foto: Adam Berry/getty

BERLIN taz | „Umut yok, devrim yok“, sagt Sibel Yiğitalp – und ihre Genossin aus der kurdischen Freiheitsbewegung, Gülizar Karagöz, übersetzt aus dem Türkischen: „Ohne Hoffnung keine Revolution.“ Die beiden sitzen zum Frühstück in einem kurdischen Café in Berlin-Neukölln. Die Stimmung ist entspannt, es gibt frisches Obst, Salat, Sesamringe mit Marmelade, Çay-Tee und Kaffee.

Die Gelassenheit der beiden Frauen wirkt surreal, wenn man bedenkt, was auf dem Spiel steht. Ihre leuchtenden Augen, ihre fokussierten Antworten verheißen allerdings mehr.

Für sie, wie auch für bundesweit etwa 1,5 Millionen weitere, in der Türkei Wahlberechtigte, ist der Mittwoch ein wichtiger, ja gewissermaßen geschichtsträchtiger Tag: Der letzte Stichwahltag im Ausland (aus türkischer Perspektive) um die türkische Präsidentschaft, zwischen Recep Tayyip Erdoğan und Kemal Kılıçdaroğlu. In der Türkei selbst können die Stimmen erst am Sonntag abgegeben werden.

In der ersten Runde konnte keiner der Kandidaten eine absolute Mehrheit erzielen. Erdoğan verpasste diese mit 49,5 Prozent allerdings nur knapp und erzielte damit fast 5 Prozentpunkte mehr Stimmen als Kılıçdaroğlu – entgegen vielen Erwartungen und Hoffnungen der demokratischen Kräfte in der Türkei und in der türkischen Diaspora weltweit. Viele hatten gedacht, dass Kılıçdaroğlu mindestens vorn liegt. Manche hatten sich gar seinen Sieg mit absoluter Mehrheit im ersten Wahlgang ausgemalt.

„Jetzt bin ich selbst Flüchtling“

Für die Stichwahl stand nun die Frage im Raum: Schaffen es die oppositionellen Kräfte, erneut ein Momentum zu kreieren, erneut Hoffnung auf einen möglichen Sieg aufzubauen und die Wäh­le­r*in­nen damit zu erreichen?

Yiğitalp und Karagöz glauben an die Möglichkeit des Erfolgs. Seit Wochen sind sie im Wahlkampf aktiv, sprechen mit Menschen auf Konferenzen, bei politischen Veranstaltungen. Yiğitalp auf europäischer Ebene, Karagöz berlinweit. Karagöz ist zusätzlich in der Wahlkommission tätig und überwacht den fairen Ablauf der Wahl im türkischen Generalkonsulat in Berlin Charlottenburg.

Mehtap Erol, YSP (Grüne Links­partei)

„Die Leute merken, dass Erdoğans Stuhl wackelt. Man muss jetzt nur noch ein bisschen ruckeln“

Karagöz ist Flüchtlingskind. Ihr Vater kam vor Jahrzehnten als politisch Verfolgter nach Deutschland. Yiğitalp wird selbst politisch verfolgt und lebt in Berlin im Exil. In der Türkei droht ihr jahrelange Haft. Dabei saß sie von 2015 bis 2018 noch für die HDP (Linkspartei) im türkischen Parlament und war dort für Menschenrechte und Flüchtlingsangelegenheiten zuständig. „Jetzt bin ich selbst Flüchtling“, sagt sie lachend.

Die türkische Regierung verfolge sie aufgrund ihres Einsatzes für Demokratie und Menschenrechte sowie wegen ihrer regierungskritischen Haltung, erklärt sie. Jetzt kämpft sie aus dem Berliner Exil für den demokratischen Wandel in ihrem Herkunftsland.

Von 6 Uhr morgens bis 1 Uhr nachts

Oppositionsparteien in Berlin haben für diesen Kampf ein inoffizielles Bündnis gebildet. Kenan Kolat, Berlin-Vorsitzender von Kılıçdaroğlus CHP, sagt, dass die Arbeit „ein gemeinsamer Kampf gegen das Ein-Mann-Regime“ Erdoğans sei. Mehtap Erol von der Yeşil Sol Parti (Grüne Linkspartei) sprach von einer „Koalition der Völker“. „Erdoğan hat nicht gewonnen“, sagt sie. „Die Leute merken, dass Erdoğans Stuhl wackelt. Man muss jetzt nur noch ein bisschen ruckeln.“

Erol arbeitet in Vollzeit als Pflegedienstleiterin und macht nebenbei Wahlkampf. Ihre Tage begannen in der letzten Zeit morgens um 6 Uhr und endeten nachts um 1 Uhr: 8 Stunden Arbeit im Pflegedienst; weitere 8 Stunden in der Wahlbeobachtung im Generalkonsulat. Dazu hin und her pendeln zwischen Arbeitsstelle, Konsulat in Charlottenburg und Wohnung in Köpenick. Ach ja, und ein warmes Getränk vor dem Schlafengehen, „das muss sein!“, sagt sie.

Erste und zweite Runde

Die erste Wahlrunde in der Türkei fand am 14. Mai statt. Keiner der Kandidaten erreichte die absolute Mehrheit. Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan erhielt rund 49,5 Prozent der Stimmen, sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu wurde mit ca. 45 Prozent gewählt. Am 28. Mai finden Stichwahlen zwischen den beiden statt.

Die Beteiligten

Der Oppositionelle Kılıçdaroğlu von der sozialdemokratischen Partei CHP tritt in einem Bündnis aus sechs Parteien an, die politisch heterogen sind. Ziel des Bündnisses ist, den autoritären Islamo-Nationalismus von Präsident Erdoğan abzulösen. Nach der ersten Runde machte auch Kılıçdaroğlu mit rechten Parolen Wahlkampf. Der ultranationalistische und drittplatzierte Kandidat Sinan Oğan rief seine Wähler*innen nach der ersten Wahlrunde dazu auf, für Erdoğan zu stimmen.

Natürlich sei sie kurz enttäuscht gewesen, dass es nicht in der ersten Runde für Kılıçdaroğlu gereicht hat. Entmutigen lassen habe sie sich aber nicht. „Nach dem ersten Wahlgang haben wir uns mit den demokratischen Parteien in der alevitischen Gemeinde zusammengesetzt und besprochen, wie wir die Menschen zur Wahl mobilisieren und die Wahlsicherheit überwachen können“, berichtet Erol. Neben Schichten zur Wahlbeobachtung im Konsulat wurden Shuttles für behinderte oder alte Menschen organisiert.

Allein von der CHP waren während der Wahl in Berlin 8 Kleinbusse und 30 Privatwagen dauerhaft im Einsatz. Insgesamt wurden so bis Mittwochabend etwa 1.500 Menschen zur Wahl bewegt, erklärt Kolat. Dazu wurden Menschen über soziale Medien und über die breiten Vereins- und Verbandsstrukturen beider Parteien zur Wahl aufgerufen. So ähnlich sei das auch bundes- und europaweit organisiert worden, erklärt Erol und ergänzt: „Das ist natürlich in ländlichen Regionen komplizierter, wo die Menschen weiter auseinander wohnen.“

Glaube an die „revolutionäre Möglichkeit“

Auch am Dienstag, am vorletzten Wahltag der „Auslands-türk*innen“, zeigt sich, dass diese Strategie in Berlin Früchte trägt. Vor dem Generalkonsulat, einem von insgesamt 14 in der Bundesrepublik, stehen Menschentrauben. Es wird angeregt gesprochen. Die umliegenden Parkplätze sind prall gefüllt. In zweiter Reihe parken Fahrzeuge, lassen ältere Menschen heraus, die offenbar nicht so gut zu Fuß sind. Von den umliegenden Bushaltestellen laufen Gruppen von Menschen in Richtung Konsulat.

Wahlkampf passiert hier kaum noch, allerdings werben Nationalisten mit Türkeifahnen, die sie am Botschaftszaun befestigt haben. Manche lassen sich davor fotografieren. Ein Mensch, der Mehtap Erol begrüßt, als sie mit der taz spricht, findet das „unmöglich“. Er hofft, „dass wir diesen Nationalismus und den Faschismus in der Türkei endlich überwinden!“ Er sei in der prokurdischen Partei HDP organisiert und gerade aus Hannover angereist, um moralisch zu unterstützen. Aus Angst vor zukünftiger Repression möchte er allerdings anonym bleiben.

Ob die viele Arbeit, die hier in die Mobilisierung und Wahlbeobachtung fließt, ausreicht? „Ohne Hoffnung keine Revolution“ hatten Yiğitalp und Karagöz bei Sesamringen und Çay gesagt. Allerdings schöpften sie ihre Hoffnung weniger aus den realen Wahlergebnissen, sondern vielmehr aus ihrem tief verinnerlichten Gerechtigkeitsverständnis. „Wir glauben an die revolutionäre Möglichkeit“, sagen sie. „Das ist kein radikaler Wunsch, sondern ein einfach menschlicher nach Gleichberechtigung und Demokratie. Du weißt, dass du recht hast, dass die unterdrückten Völker recht haben. Viele Mil­lionen Menschen glauben daran. Du kannst nicht zurücktreten.“

Ein Schritt Richtung Menschlichkeit

„Es ist ein Kampf“, sagt Yiğitalp, beugt sich mit ernstem Blick nach vorn und fährt auf Türkisch fort. Karagöz übersetzt: „Ein Kampf um die Gleichberechtigung von politischen und gesellschaftlichen Minderheiten wie Kurd*innen, Ale­vit*in­nen, Armenier*innen, feministischen Frauen und Menschen der LGBTIQ-Bewegung in der Türkei und im gesamten Nahen Osten.“

Für beide ist klar, der Kampf geht auch nach der Wahl weiter, unabhängig vom Ergebnis. Selbst wenn Kılıçdaroğlu gewinnen sollte: „Der Wahlsieg bringt uns kein neues Paradies“, erklären sie. Die Demokratisierung der Türkei sei ein weiter Weg und bedürfe viel Arbeit. Ein Sieg Kı­lıç­daroğlus könne jedoch eine Tür öffnen, ein Schritt sein in Richtung Menschlichkeit. Dafür müsse man dem „Diktator Er­do­ğan ein Ende setzen“.

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