Co-Vorsitzende der HDP in Deutschland: „Kılıçdaroğlu eine Chance geben“

Am Sonntag findet die Stichwahl in der Türkei statt. Leyla Îmret, Co-Vorsitzende der kurdischen HDP in Deutschland, unterstützt den Erdoğan-Herausforderer.

Leyla Imret hat dunkelblonde lange Haare und trägt ein gelb-schwarzes Tuch

Leyla Îmret ist ehemalige Bürgermeisterin der nah der syrischen Grenze gelegenen türkischen Stadt Cizre Foto: Christoph Soeder/dpa

taz: Frau Îmret, sie waren selbst von politischer Verfolgung in der Türkei betroffen. Erst vorgestern gab es wieder Berichte über Razzien bei Oppositionellen. Wie erleben Sie die Zeit gerade persönlich?

Leyla Îmret: Seit 2015 gibt es eine systematische Unterdrückung unserer Partei. Aber auch nicht politisch aktive Kur­d*in­nen sind davon betroffen. Und mittlerweile wirklich alle De­mo­kra­t*in­nen in der Türkei. 15.000 Menschen wurden in den letzten Jahren verhaftet. Das ist systematisch.

35, wuchs in Bremen auf, war von 2014 bis 2016 Bürgermeisterin der Stadt Cizre. Nach mehreren von der AKP veranlassten Verhaftungen und Absetzungen ging sie ins Exil. Sie ist Co-Vorsitzende der HDP Deutschland

Wen meinen Sie mit Demokrat*innen?

Da braucht man sich nur die Exilprofile der letzten Jahre angucken. Darunter sind Jour­na­lis­t*innen, Künst­le­r*innen, Akademiker*innen, Politiker*innen. Auf allen Ebenen werden die Menschen mit Terrorvorwürfen angeklagt und haben keine Wahl, als das Land zu verlassen.

Keine Wahl?

Kaum eine Wahl. Es gibt in der Türkei im Grunde keine Rechtsstaatlichkeit mehr. Ich habe es selbst erlebt. An einem Abend hat Erdoğan im Staatsfernsehen über mich gesagt, ich rede über Bürgerkrieg und müsse zur Rechenschaft gezogen werden. Am nächsten Morgen stand die Polizei vor der Tür, ohne Anklage. Ich habe das Vertrauen verloren und so geht es vielen. Entweder du bleibst und bist ständig von willkürlicher Festnahme bedroht oder du gehst ins Exil.

Besonders viel Repression richtet sich gegen Ihre Partei. Aktuell läuft ein Parteiverbotsverfahren. Weshalb?

Als wir 2015 mit etwa 13 Prozent zum ersten Mal ins Parlament eingezogen sind, haben wir verhindert, dass das Präsidialsystem, das Ein-Mann-Regime eingeführt wird. Leider konnte die AKP es später doch durchsetzen. Bei den Kommunalwahlen 2019 haben wir eine Schlüsselrolle gespielt. Durch unsere Politikstrategie konnte die CHP unter anderem in Istanbul gewinnen. Wir waren dort Königsmacher. Diese Schlüsselrolle wollen sie uns wegnehmen. Vor allem auch, weil wir uns im Parlament stark gegen die ganze Mentalität der AKP/MHO und die Unterdrückung positionieren – und für die Demokratie.

Für Kılıçdaroğlu könnten Sie jetzt wieder Königsmacher werden. In vier von fünf kurdischen Provinzen stimmten im ersten Wahlgang über 70 Prozent für ihn. Wie erklären Sie das?

Die Menschen dort haben unter der AKP-Politik der letzten Jahre besonders gelitten. In meiner Stadt Cizre gab es eine 79 Tage lange Ausgangssperre, Bombardierungen, staatliche Massaker. Die Menschen sind am lebendigen Leibe verbrannt. Die Wunden sind noch frisch und die Menschen wollen einen politischen Wandel.

Warum trauen sie Kılıçdaroğlu diesen Wandel zu?

Sie vertrauen uns, der HDP und der grünen Linkspartei. Wir sind in den Gebieten sehr gut organisiert und haben beschlossen, keinen eigenen Kandidaten zu stellen, sondern die Wahlempfehlung für Kılıçdaroğlu auszusprechen.

Warum vertrauen Sie ihm?

Er scheint ein Demokrat zu sein. Auch er will der Mentalität der AKP/MHP, also dem Faschismus in der Türkei ein Ende setzen. Wir wollen Kılıçdaroğlu eine Chance geben.

Gibt es Bedingungen, an die Sie Ihre Unterstützung geknüpft haben?

Natürlich. Wir haben klare Forderungen. Die Zwangsverwaltungen der kurdischen Städte müssen aufgehoben werden. Wir wollen die Rechtsstaatlichkeit zurück. Politische Gefangene sollen freigelassen werden. Und vor allem braucht es eine politische Lösung der Kurdenfrage, darunter freie Muttersprache und Kultur. Die Politik der Leugnung muss aufhören. Übrigens auch bei anderen Fragen, wie der der Frauen und der Ökologie.

Das klingt weitreichend, besonders in Anbetracht der teils rechtskonservativen Bündnispartner der CHP.

Der erste Schritt ist der politische Systemwandel. Wir brauchen die Demokratie, dann können wir im Parlament über die genannten Fragen und Forderungen sprechen. Im Moment ist das nicht möglich. Die AKP/MHP leugnet die Probleme. Sie sagen: „Es gibt keine Kurdenfrage. Es gibt keine Frauenfrage. Es gibt keine Umweltfrage.“ Für sie sind alle gleich, alle zufrieden, es gibt offiziell nicht einmal eine ökonomische Krise.

Autoritäre Regime wie der Iran oder Katar unterstützen Erdoğan. Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang die Verantwortung etwa der EU?

Ich arbeite viel mit unseren deutschen und europäischen Schwesterparteien, der Linkspartei und den Grünen, zusammen. Vor den Wahlen gab es Solidaritätsbekundungen und Wahlaufrufe. Viele Menschen haben sich freiwillig zur Wahlbeobachtung gemeldet. Und auch danach gab es öffentliche Kritik zum unfairen Ablauf der Wahlen sowie die Berichte der OSZE. Das war gut und wichtig.

Aber reicht das?

Nein, besonders nicht im Hinblick auf die Menschenrechtsverletzungen der letzten Jahre. Es hätte schon längst Sanktionen, also klare Positionierungen für die demokratischen Werte der EU geben müssen.

Was steht dem aus Ihrer Sicht im Weg?

Vor allem eigene, staatliche und geostrategische Interessen, wie beispielsweise das Flüchtlingsabkommen. Aber es gibt auch ein systematisches Problem: Staaten sprechen mit Staaten. Staatliche Aussagen sind ihre jeweiligen Referenzpunkte. Die Perspektive der Opposition kommt erst danach.

Auch hier braucht es einen Systemwandel?

Es braucht ein ernsthaftes Unterstützen der Demokratie, eine klare Haltung und entsprechendes Handeln. Die EU-Außenpolitik muss sich darum bemühen, demokratische Partner in der türkischen Regierung zu haben. Das würde auch für sie vieles einfacher machen.

Und medial?

Kurz vor den Wahlen wurden 165 Personen verhaftet. Wer hat darüber berichtet? Das ist ein großes Problem. Auch die Medien sollten sich auf ihre ­demokratischen Werte besinnen.

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