Paranoia, Argwohn, Angstschürerei: Fortschritt ohne Freiheit

Wenn sich normalisiert, was sowieso normal sein sollte, ist das ein Fortschritt. Für queere Menschen ist da viel passiert. Aber das ist nicht genug.

Wehende LGBT-Flaggen vor dem Berliner Fernsehturm

Wehende LGBT-Flaggen im öffentlichen Raum sind noch kein Garant für Fortschritt und Toleranz Foto: snapshot/imago

Liebe queere Leser*innen, sagen Sie mir, wo Sie sich zuerst über LGBT informiert haben – dann sage ich Ihnen, wie alt Sie sind. Haben Sie sich heimlich zu Randzeiten in die hinteren Gänge einer Bibliothek geschlichen? Erst ein Wörterbuch herausgezogen, weil das unverfänglich ist, dann vielleicht ein medizinisches Buch? Wenn Sie Glück hatten, gab es „Querelle“ oder etwas von Virginia Woolf? Sie sind über 40.

Sind Sie hingegen nach 22 Uhr im Fernsehen über Schwule, Lesben, bi und trans Menschen gestolpert, weil „Anderstrend“ oder „Wa(h)re Liebe“ lief, und haben dann vielleicht noch einen Chatroom im www entdeckt? Dann sind Sie Kind der 90er oder 2000er.

Verstehen Sie die Frage nicht, weil Sie, seit Sie denken können, zu jeder Tageszeit LGBT im Fernsehen sehen oder ganz selbstverständlich mit offen queeren Menschen in Familie und Freundeskreis aufwachsen? Sie sind drei. War’s schön in der Kita heute?

Das, was ich hier beschreibe, heißt Fortschritt. Fortschritt ist zum Beispiel, wenn sich etwas normalisiert, was sowieso normal sein sollte. In dieser Hinsicht ist für queere Menschen im letzten halben Jahrhundert viel passiert. In Sachen Repräsentation, Rechte, Diskurs. Niemandem aus der Community würde eine Zeitreise rückwärts großen Spaß machen. Ergo gibt es Fortschritt.

Kindeswohl-Schleimspur

Fortschritt ist aber auch eine ziemliche Hülse. Denn den gibt’s nur unterm Strich. Was seit Jahren öffentlich über trans Leute geredet wird, diese ganze Paranoia, der Argwohn und die fade Angstschürerei, das ist kein Fortschritt. Oder dass Leute in der CSU sich über Drag Queens echauffieren, die Kindern aus Büchern vorlesen.

Wenn ich mich vor zehn Jahren aufgeregt habe, dass so viele Leute die Ehe für alle oder Regenbogenfamilien ablehnten, hieß es mehr als einmal: „Aber du musst doch auch sehen, wie weit wir gekommen sind!“ Heute dagegen sollen wir bitte Geduld mit dem Selbstbestimmungsgesetz haben und den Christsozialen keine Drag Queens zumuten – denn immerhin haben wir doch jetzt Ehe für alle und Regenbogenfamilien. Fortschritt!

Derweil stricken die Konservativen in den USA, wo sie können, unfassbar alberne Gesetze, die es Leh­re­r*in­nen vergällen, queere Begriffe auch nur in den Mund zu nehmen. Und die Konservativen nicht nur hierzulande lassen sich zumindest im Geiste davon inspirieren.

Ich warte darauf, dass besorgte Eltern wieder anfangen, auf ihrer Kindeswohl-Schleimspur in die Talkshows zu kriechen. Und ich warte darauf, dass Kinder sich wieder zu Randzeiten in die hintersten Gänge des Internets schleichen, auf der Suche nach Sexualität und Gender-Identität – anstatt offen zu fragen.

Das Gerede vom Fortschritt, merke ich, ist so eine gefällige Pi-mal-Daumen-Rechnung. Fortschritt wird gerne von denjenigen betont, die sich mit unseren Problemen nicht auseinandersetzen wollen. Was haben wir von Fortschritt unterm Strich, wenn wir keine Freiheit haben?

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