Experte zu Bildungsungerechtigkeit: „Es bräuchte klarere Standards“

Kinder aus ärmeren Familien besuchen seltener das Gymnasium, hat die Iglu-Studie gezeigt. Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani fordert mehr Transparenz.

Portrait

Aladin El-Mafaalani Foto: Oliver Schaper/imago

taz: Herr El-Mafaalani, laut der aktuellen Iglu-Studie bekommen Kinder aus einkommensschwachen Haushalten seltener eine Empfehlung fürs Gymnasium, weil die Latte für sie höher liegt. Sie müssen deutlich besser lesen können als Kinder reicher Eltern. Überrascht sie das?

Aladin El-Mafaalani: Nein. In der Studie gibt es keine Überraschungen, nur traurige gesicherte Befunde.

Wie lässt sich der Zusammenhang erklären?

Zum einen können Lehrkräfte die Kinder unbewusst falsch einschätzen, etwa weil sie selbst akademisch geprägt sind und dadurch die Talente von ebenfalls akademisch geprägten Kindern eher erkennen. Teilweise entscheiden sich Lehrkräfte auch bewusst gegen eine Gymnasialempfehlung, weil sie befürchten, dass Kinder aus ärmeren Haushalten auf einem Gymnasium schlechter klarkommen. Das heißt also: Wenn ein Kind im Hinblick auf die Leistungseinschätzung an der Grenze liegt, können leistungsferne Aspekte eine Rolle spielen. Beide Varianten der Ungleichbehandlung sind nicht in Ordnung. Ein Problem dabei ist aber: Ließe man die Eltern alleine entscheiden, würde es noch unfairer sein.

ist Soziologe an der Universität Osnabrück. Einer seiner Schwerpunkte: die Bildungsungerechtigkeit in Deutschland.

Die Eltern entscheiden ungerechter als die Lehrkräfte?

Genau. Reiche Eltern entscheiden sich eher für ein Gymnasium, obwohl ihr Kind gar nicht so leistungsstark ist. Ärmere Eltern entscheiden sich nicht selten gegen ein Gymnasium, obwohl ihr Kind eine Gymnasialempfehlung hat. Die Iglu-Studie bezieht sich dabei nur auf die Fähigkeit zu lesen. Das ist aber natürlich nicht der einzige Faktor, der die Entscheidung der Eltern beeinflusst.

Warum entscheiden sich ärmere Eltern denn noch gegen das Gymnasium?

Die Eltern befürchten, dass sie ihren Kindern auf einem Gymnasium nicht helfen können, weil sie selbst etwa nur eine Hauptschule besucht haben. Sie sorgen sich, dass ihre Kinder sich dann alleine durchkämpfen müssen. Die Eltern meinen teils auch, dass nur Kinder von Anwältinnen, Ärzten und Lehrerinnen Gymnasien besuchen. Das ist in der Realität natürlich nicht mehr so. Der größte Teil der Kinder besucht heute ein Gymnasium.

Dennoch fragen sich diese Eltern: Kann mein Kind in diesem Umfeld Anschluss finden? Auch eigene Gefühle von Scham und Hilflosigkeit spielen da mit rein. Viele Eltern, die selbst eine Hauptschule besucht haben, sind dann damit zufrieden, dass ihre Kinder auf eine Realschule gehen, auch wenn sie das Potenzial für ein Gymnasium hätten. So entfernen sich die Kinder auch weniger von ihnen.

Gilt das auch für Kinder aus migrantischen Haushalten?

Nein, es lässt sich feststellen, dass migrantische Eltern ihren Kindern eher mehr zutrauen. Auch die Iglu-Ergebnisse weisen darauf hin.

Wie erklären Sie das?

Mi­gran­t:in­nen sind mutiger. Migration erfordert ein relativ hohes Maß an Risikobereitschaft. Entsprechend kann man feststellen, dass Mi­gran­t:in­nen tendenziell höhere Erfolgserwartungen an ihre Kinder haben.

Was muss sich ändern, damit die Empfehlungen für das Gymnasium gerechter werden?

Das aktuelle System ist naturwüchsig und unsystematisch. Was die konkrete Ausgestaltung angeht, will ich mich nicht festlegen. Die Empfehlungen müssen aber in jedem Fall transparenter werden. Aktuell werden die Entscheidungen je nach Gegend und Schule sehr unterschiedlich gefällt. Die regionalen Abweichungen sind zum Teil enorm, selbst innerhalb eines Bundeslandes.

Es bräuchte klarere Standards, denn die Entscheidungen von Eltern und Lehrkräften basieren aktuell auf viel mehr als nur den fachlichen Kompetenzen der Kinder: Lehrkräfte bewerten ja auch die Heftführung, das Sozialverhalten, die Disziplin und die mündliche Mitarbeit der Kinder. Wir müssen uns fragen, ob das wünschenswert ist. Denn in diesen Bereichen unterscheiden sich Kinder aus verschiedenen Milieus einfach. Das gilt es zu reflektieren. Und noch wichtiger: Über 25 Prozent der Kinder erreichen nicht die Mindestlernziele. Das ist ein großes Problem.

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