Menschen mit ürkischen Fahnen vor einem Plakat mit dem Porotrait Erdogans

Sie können jubeln: An­hän­ge­r*in­nen Erdogans schwenken Fahnen vor dem Hauptquartier der AKP in Ankara Foto: Umit Bektas/reuters

Nach der Wahl in der Türkei:Der türkische Frühling muss warten

Der türkische Präsident Erdoğan hat seinen Herausforderer Kılıçdaroğlu auf Distanz gehalten. Für die liberalen Kräfte im Land ist das ein harter Schlag.

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15.5.2023, 18:53  Uhr

Zehntausende sind gekommen. Sie tanzen Sonntagnacht auf den Straßen und schwenken Türkeifahnen. Musik dröhnt durch das nächtliche Ankara. Junge Frauen liegen sich in den Armen. Halbstarke stürzen sich in die Menge und zeigen den Wolfsgruß, das Zeichen der türkischen Faschisten. Eltern tragen ihre verschlafenen Kinder durch das Gedränge. Alle sind da, um vor der Zentrale der AKP ihren Sieg zu feiern. Es ist die Wahlparty, die eigentlich die türkische Opposition für sich erhofft hatte. Doch es ist die Nacht von Recep Tayyip Erdoğan.

Der türkische Präsident steht auf dem vorläufigen Höhepunkt seiner Macht. Entgegen fast aller Prognosen hat Erdoğan die Präsidentschaftswahlen am Sonntag mit sicherem Abstand gewonnen – auch wenn er nicht zur nötigen absoluten Mehrheit gereicht hat und Erdoğan in die Stichwahl muss. Doch seine religiös-konservative AKP wird erneut als stärkste Kraft in das Parlament einziehen, auch das ein Sieg.

Die Kritik am Katastrophenschutz nach dem verheerenden Erdbeben, die massive Wirtschaftskrise, die geeinte Opposition: Sie sind am Präsidenten abgeprallt. Die Allianz um Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu wird am 28. Mai geschwächt in die Stichwahlen um das Präsidentenamt ziehen. Seine CHP ist erschüttert. Eigentlich hatte sich die Opposition das alles ganz anders vorgestellt.

Gegen halb drei Uhr am Montagmorgen geschieht das, worauf die Massen vor der AKP-Zentrale in Ankara hingefiebert haben: Erdoğan spricht vom Balkon des Gebäudes zu seinen Anhänger*innen. Als der amtierende Präsident dann aber noch vor seiner Ansprache zu singen beginnt, wird der Jubel der Massen auf dem Vorplatz frenetisch. Erdoğan stimmt tatsächlich in ein Lied über sich selbst mit ein, und seine An­hän­ge­r*in­nen singen mit ihm: „An alle die es hören und die, die es nicht hören / An alle die nach ihm fragen und die, die nicht fragen. Wir lieben ihn, wir lieben ihn sehr. Wir lieben ihn, wir lieben ihn.“

Die Genugtuung dieses Moments muss für die Menschen hier, den Präsidenten inklusive, unglaublich sein. Denn einige hatten Erdoğan bei diesen Wahlen stolpern gesehen.

Kılıçdaroğlu beflügelt in linken Kreisen den Wunsch nach einer liberaleren Gesellschaft, nach mehr Meinungsfreiheit

Im Westen des Stadtzentrums von Ankara liegt die Parteizentrale der AKP, nur etwa 1,5 Kilometer vom Sitz der kemalistischen CHP entfernt. Die Slogans von der AKP-Wahlparty schallen in der Nacht fast bis dort hin. Anders als beim Erdoğan-Lager versucht hier in der Nacht nur eine Handvoll Menschen vor dem Gebäude mit Sprechchören die Stimmung aufrecht zu erhalten. Eine große Wahlparty hatte die Opposition auch gar nicht vorgesehen, die Parteizentrale ist weitgehend von der Bevölkerung abgeschirmt.

Am Sitz der CHP treten nach Schließung der Wahllokale am Sonntagnachmittag die Bürgermeister von Ankara und Istanbul, Mansur Yavaş und Ekrem Imamoğlu, im Stundentakt vor die Kameras. Beide sind designierte Stellvertreter des Präsidentschaftskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu. Während am Abend die Auszählung der Stimmen läuft, arbeiten sich die beiden an der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu ab. Diese meldet um 18.30 Uhr Ortszeit, nach Aufhebung der in der Türkei an Wahltagen geltenden Nachrichtensperre, einen deutlichen Vorsprung Erdoğans und sieht ihn bei 59 Prozent.

Kılıçdaroğlu liegt diesen ersten Angaben der Agentur zufolge dagegen weit abgeschlagen bei Werten um die 44 Prozent. Ankaras Bürgermeister Yavaş wirft der staatlichen Anadolu Manipulation vor. Sein Parteikollege Imamoğlu sieht in dem Vorgehen der Nachrichtenagentur eine Strategie, den Rückhalt der Opposition am Wahlabend zu brechen. Er fordert deshalb die Wahl­hel­fe­r*in­nen und die Gesandten der CHP in den Wahlbüros dazu auf, sich nicht demotivieren zu lassen und die Auszählungen der Stimmen genau zu verfolgen.

Dabei gibt sich die CHP den ganzen Abend kämpferisch und hoffnungsvoll. Der Bürgermeister von Istanbul, Imamoğlu, selbst ein großer Hoffnungsträger der Partei und einst auch als möglicher Präsidentschaftskandidat gehandelt, avanciert zum Sprecher des breiten Oppositionsbündnisses aus sechs Parteien. „Ich sehe große Chancen, dass wir im ersten Wahlgang gewinnen werden“, sagt er noch am späten Sonntagabend gegenüber der im Gebäude versammelten Presse.

Doch es kommt anders, der Trend hin zu einem Wahlerfolg für den amtierenden Präsidenten verfestigt sich am Montagmorgen weiter: Die Wahlkommission YSK sieht Erdoğan da bei 49,4 Prozent der Stimmen. Kemal Kılıçdaroğlu erhielt demnach 44,9 Prozent, der Nationalist Sinan Oğan 5,2 Prozent. Die Stimmen für Muharrem Ince, der sich am vergangenen Donnerstag kurz vor dem Wahlgang aus dem Rennen zurückgezogen hatte, wurden noch mitgezählt. Er erhielt nach Angaben der YSK 0,44 Prozent.

Erdoğan stimmt tatsächlich in ein Lied über sich selbst mit ein, und seine An­hän­ge­r*in­nen singen mit ihm: „Wir lieben ihn, wir lieben ihn sehr. Wir lieben ihn“

Am Nachmittag dann, nur noch wenige Zehntausend Stimmen sind noch nicht ausgezählt, teilt die Wahlbehörde offiziell mit: Erdoğan muss in die Stichwahl. Er schrammt knapp an der absoluten Mehrheit der Stimmen im ersten Wahlgang vorbei.

In den Prognosen hatte das anders ausgesehen, die meisten Umfrageinstitute hatten Kılıçdaroğlu als Wahlsieger gesehen. Teilweise rechneten sie auch bereits mit einer absoluten Mehrheit für ihn schon im ersten Wahlgang. In den liberaleren Kreisen der türkischen Zivilgesellschaft spielte das Wunschdenken mit hinein, nach 21 Jahren der Erdoğan-Herrschaft endlich ein Ende zu setzen.

Die Wechselstimmung im Land war zuletzt so greifbar wie lange nicht mehr. Kemal Kılıçdaroğlu, der „demokratische Opa“, wie er von seinen jüngeren An­hän­ge­r*in­nen liebevoll genannt wird, hatte sich einen breiten Rückhalt in der türkischen Opposition verschafft. Seine „Allianz der Nation“, ein Bündnis aus sechs Parteien unterschiedlicher Strömungen, stand zuletzt fest hinter dem als bescheiden geltenden 74-jährigen Mann aus der Provinz Dersim (Tunceli) im Osten der Türkei.

Dass der Technokrat aus dem Ankaraer Beamtenapparat trotz seines offenen Bekenntnisses zum Alevitentum und trotz der ihm nachgesagten Schwäche bei öffentlichen Reden der Spitzenkandidat des Bündnisses wurde, sorgte für Aufsehen. Zuletzt wurde ihm immer wieder große ­Sympathie zuteil, als er sich aus einem kleinen Arbeitszimmer oder aus der Küche in seiner Wohnung in Ankara zu politischen Themen zu Wort meldete.

Seine Social-Media-Kampagne war voll auf ihn abgestimmt. Sie zielte darauf, das Bild eines Mannes zu schaffen, der nicht etwa wie Erdoğan aus einem gigantischen Palast in Ankara einsame Entscheidungen fällt. Er wurde als ein Mann des Volkes inszeniert, der erst die Ärmel hoch- und dann das Land umkrempelt. Kılıçdaroğlu trat mit dem Versprechen an, das von Erdoğan mit einem Verfassungsreferendum 2017 eingeführte Präsidialsystem wieder zugunsten einer parlamentarischen Demokratie zu ändern.

jubelnde Menschen mit türkischen Fahnen

Sprechchöre und Lieder für ihren Präsidenten: AKP-Fans in der Wahlnacht in Istanbul Foto: Dilara Senkaya/reuters

Seine Kandidatur beflügelte in linken Kreisen in der Türkei den Wunsch nach einer liberaleren Gesellschaftsordnung, einer besseren Gewaltenteilung, einer stärkeren Meinungsfreiheit. Der Wahlkampfspruch der Opposition lautete: „Versprochen, es wird wieder Frühling werden.“ Dieser Frühling muss in der Türkei noch warten. Die Hoffnung auf Demokratisierung hat nach dem Wahlausgang am Sonntag einen entscheidenden Dämpfer erlitten.

Denn die Wahlen machen auch einen entschiedenen Rechtsrutsch innerhalb der türkischen Parteienlandschaft deutlich. Auf die rechte Partei Iyi Parti, die im Bündnis mit Oppositionskandidat Kılıçdaroğlu antritt, und die rechtsextreme MHP, die in einer Allianz mit Erdoğan steckt, entfallen den vorläufigen Angaben zufolge bei den Parlamentswahlen jeweils etwa 10 Prozent der Stimmen. Und bei den Präsidentschaftswahlen erhielt mit Sinan Oğan ein weiterer Rechtsaußen etwa 5 Prozent Zustimmung. Das sind die Realitäten, denen sich die linken Kräfte in der türkischen Gesellschaft nun stellen müssen.

Der Ausgang der Parlamentswahlen, die am Sonntag parallel zu den Abstimmungen über das Staatsoberhaupt stattgefunden haben, kann der türkischen Opposition ihre Kampagne für die zweite Tour der Präsidentschaftswahlen am 28. Mai erschweren. Die AKP landet den vorläufigen Angaben zufolge mit etwa 35 Prozent der Stimmen als stärkste Kraft in der Nationalversammlung in Ankara. Sie läge damit ganze 10 Prozentpunkte vor der CHP, die nur bei 25 Prozent liegt. In den Prognosen war ein Wahlsieg der AKP bei den Parlamentswahlen zwar vorhergesagt worden – dass der Unterschied zwischen den Parteien aber so gewaltig ist, hat nun viele überrascht.

Nach der nächtlichen Gesangseinlage vor seinen An­hän­ge­r*in­nen kann sich Erdoğan am frühen Montagmorgen in Ankara Häme nicht verkneifen. „Manche sprechen aus der Küche, wir sprechen vom Balkon“, sagt er an Kemal Kılıçdaroğlu gerichtet. Viele Menschen auf dem Platz lachen laut auf. Anschließend gibt sich der amtierende Präsident staatsmännisch. „Wenn aus der Entscheidung unseres Volkes hervorgeht, dass die Präsidentschaftswahlen abgeschlossen sind, dann gibt es ohnehin keinen Zweifel. Wenn unser Volk sich für eine zweite Runde der Wahl entschieden hat, ist das ebenfalls zu begrüßen“, ruft er den Menschen zu.

Die eher nüchterne Rede wirkt als harter Kontrast zum Fanatismus, der ihm aus der Menge entgegenschlägt. Immer wieder wird er von Jubelchören unterbrochen.

Zwei Frauen mit türkischer Fahne

Ernüchterung: vor der Zentrale der oppositionellen CHP in Ankara werden die Fahnen halbmast getragen Foto: Sedat Suna/epa

Das OSZE-Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) berichtete in seiner Wahlbeobachtungsanalyse am Montag von einem „größtenteils friedlichen und reibungslosen Wahlgang, trotz einiger Zwischenfälle in und rund um die Wahllokale“. Die Wahlen seien im Allgemeinen gut organisiert gewesen, aber wichtige Sicherheitsvorkehrungen, insbesondere während der Auszählungen, seien nicht immer eingehalten worden.

Scharfe Kritik äußerten die internationalen Be­ob­ach­te­r*in­nen am rechtlichen Rahmen, in dem die Wahlen stattgefunden haben. „Der derzeitige Präsident und die Regierungsparteien genossen einen ungerechtfertigten Vorteil“, heißt es in dem Bericht. „Dies waren zwar kompetitive, aber dennoch eingeschränkte Wahlen, da die Kriminalisierung einiger politischer Kräfte, einschließlich der Inhaftierung mehrerer Oppositionspolitiker, einen vollständigen politischen Pluralismus verhinderte“, erklärte Michael Georg Link, FDP-Politiker und Leiter der parlamentarischen OSZE-Beobachter*innen-Mission.

Bis Dienstagmittag werden die Parteien Zeit haben, das Wahlergebnis in der Türkei offiziell anzufechten. Bereits am Sonntagabend wurde bekannt, dass Kemal Kılıçdaroğlu mit dem Rechtsaußen Sinan Oğan telefoniert hatte. Auch aus der AKP bekam der Zählkandidat der Rechten einen Anruf, vom stellvertretenden Parteidirektor Binali Yıldırım. Beide Parteien sind also noch vor der Verkündung des amtlichen Endergebnisses bereits wieder im Wahlkampfmodus.

Die AKP sieht den Vorteil auf ihrer Seite, mit der Parlamentsmehrheit im Rücken und dem jetzigen Vorsprung bei den Präsidentschaftswahlen. Doch die CHP und die Oppositionsallianz lassen nicht locker: Erdoğan sei bei der Wahl zum Präsidenten nicht gewählt worden, sagte der CHP-Abgeordnete aus Ankara, Levent Gök. Der CHP-Chef Kılıçdaroğlu habe es in die zweite Runde geschafft. „Der eigentliche Wahlkampf“, sagt er, „beginnt jetzt“.

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