Start des Theatertreffens in Berlin: Die Lehre von der Liebe

Mit einer Inszenierung aus München begann das Theater­treffen. „Das Vermächtnis“ erzählt vom Leben und Sterben in einer schwulen Community.

In einem hellen Wohnzimmer sitzen sieben Freunde um einen Tisch

Bei Eric und Toby feiern die Freunde Geburtstag, noch scheint alles im Lot zu sein Foto: Sandra Then

Walters Auftritte haben etwas von einer Figur in Schwarz-Weiß, die durch einen Farbfilm läuft. Lang und schmal, und deutlich älter und etwas langsamer als die jungen Männern, die ihn als ihren Mentor befragen, ist er das stille Zentrum in der Inszenierung „Das Vermächtnis“ – nach einem Text des amerikanischen Autors Matthew Lopez.

Walter lehrt sie erzählen; das ist offensichtlich, aber noch nicht alles. Denn eigentlich lehrt er sie zu leben und zu lieben. Dass sie nicht auf die Krisen vorbereitet sind, die auch Jahrzehnte nach Aids eine schwule Community erschüttern und existenziell bedrohen können, ist dem hedonistischen Freundeskreis um die beiden New Yorker Eric Glass und Toby Darling zunächst nicht bewusst. Sie sind etabliert, sie scheinen gesichert, sie adoptieren Kinder, sie sind sichtbar und viele. Aber dann läuft doch für einige das Leben unerwartet aus der Bahn, und daran ist nicht nur die Wahl von Donald Trump schuld.

Mit dem Gastspiel von „Das Vermächtnis“ begann das Theatertreffen in Berlin, das zehn ausgewählte Inszenierungen zeigt, in seiner 60. Ausgabe. Philipp Stölzl, der, seltene Ausnahme im Kulturbetrieb, als Filmregisseur („Nordwand“, „Goethe!“ oder „Schachnovelle“) und als Regisseur von Opern und Theaterstücken erfolgreich ist, kommt zum ersten Mal zu dem Berliner Festival.

Seine Inszenierung ist ein sanftes Erzählen in teils komisch zugespitzten, teils sehr traurigen Episoden, von Pausen unterbrochen, fast sieben Stunden lang. Man taucht bei hellem Sonnenwetter draußen darin ein wie in eine Serie, deren verzweigtes Personal man unbedingt noch um die nächste Kurve begleiten will. Es gibt viele Liebesgeschichten und viel Leiderfahrung in der Gegenwart der Erzählung.

Freunde verloren

Aber eine Schicht darunter, und in die begleitet Walter (mit nachlässigem Charme von Michael Goldberg gespielt) Eric (Thiemo Strutzenberger), als der vor Liebeskummer ganz in sich selbst zurückgekrochen zu sein scheint, liegt eine Vergangenheit von großer Tragik: Walter erzählt, wie er die Liebe seines Lebens, Henry, in den 1980ern, der Zeit von Aids verlor. Nicht weil Henry, Geschäftsmann, krank geworden wäre, oh nein, er strahlt eine eiserne Stabilität aus, sondern weil Henry sich weit entfernt hielt von allen Kranken und Sterbenden, denen Walter aber ihr gemeinsames Haus geöffnet hatte.

Eine der bewegendsten Szenen ist die, in der Eric versucht, sich das emotional vorzustellen, den Tod von so vielen Freunden. Walter ruft Erics lebende Freunde nach und nach auf die Bühne und sagt an, was ihr Schicksal gewesen wäre, einige Jahrzehnte zuvor. Es sind die Worte, die rühren, und die stillen Bewegungen, mit denen sie sich Seite an Seite stellen. Nicht wenige im Publikum kramen nach ihren Taschentüchern.

Das gemeinsame Erzählen und Visualisieren der verschiedenen Zeitebenen gibt der Inszenierung einen Rahmen, in dem sie sich dann doch vom Serienschema unterscheidet. Die Schauspieler, die die Freunde in der Gegenwart und in den anderen Zeitschichten spielen, spielen zugleich eine Gruppe junger Männer, die sich diese Geschichten erzählen, um sich ihrer Position auf einem Zeitstrahl bewusst zu werden, dessen Ausgangspunkt um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert liegt, als Homosexualität allein im Verborgenen gelebt werden konnte.

Liebe zum Lesen

Ihr gemeinsamer Bezugspunkt ist der Schriftsteller Edward Morgan Forster, geboren 1879, der mit dem Roman „Howards End“ bekannt geworden war, und es nicht wagte, seinen Roman „Maurice“ über eine Liebe unter Männern zu Lebzeiten zu veröffentlichen. In den Dialogen der Clique über das, was erzählbar ist und was nicht, wird Walter gelegentlich zu Edward Morgan Forster.

Die Liebe zur Literatur, zum Finden der eigenen Identität über das Lesen von Büchern: Auch darum geht es in dieser Inszenierung immer wieder. Sie ist eine Hommage an das Lesen, dabei auch liebevoll bildungsbürgerlich, allerdings nicht frei von Klischees. New York gleicht hier einer Aneinanderreihung stilvoll eingerichteter Apartments. Es gibt in dieser Welt zwar Strichjungen und Junkies, die aus dem Elend zu ziehen sich nun Eric zur Aufgabe macht, auf Walters Spuren; doch ihre Lebenswelt bleibt eine dekorierte Behauptung.

Es sind die Worte, die rühren, und die stillen Bewegungen, mit denen sie sich Seite an Seite stellen

Diese geputzte Bühne deshalb schon zu einer Antithese zu stilisieren zu dem Klischeebild vom deutschen Theater, das mit Blut und anderen Körperflüssigkeiten so wenig geizt wie mit schrillen Stimmen, wäre aber übertrieben. Der Stil ist hier kein ästhetischer Selbstzweck. Er ist auch nicht bloß eine Hülle für den Inhalt, sondern legt um die Binnenerzählungen eine weitere Fiktion, von der Gemeinschaft der Freunde, über mehrere Generationen hinweg, die sich ihre Geschichten erzählen müssen, weil es sonst nicht geschieht.

Eine Antipode zu der Inszenierung „Ophelia’s Got Talent“ von Florentina Holzinger, die auch zum Theatertreffen eingeladen ist und einen Tag später an der Volksbühne lief, ist sie aber doch. Nicht nur, weil dort ausschließlich Frauen spielen und das Flüssige die Bühne bestimmt, sondern mehr noch weil im „Vermächtnis“ von der Sexualität zwar viel die Rede ist, sie im Spiel aber nur dezent auftaucht, während Holzinger gerade mit der Macht sexuell aufgeladener Bilder spielt.

Auch in „Ophelia’s Got Talent“ bildet der Cast der Schauspielerinnen eine Gruppe, die sich ihre Geschichten erzählen, von Ausgrenzung und Gewalt­erfahrung, von Selbstzerstörung und Selbstermächtigung. Auch Holzinger spielt mit Literatur- und Filmzitaten. Aber dann doch ungebändigter, wütender, manchmal auch oberflächlicher als Stölzl und oft überraschender: Mehr Spektakel, weniger Melancholie. Zum Auftakt nebeneinandergesetzt, baut sich zwischen den beiden Stücken jedenfalls eine Spannung auf, weil sie nicht nur so unterschiedlich, sondern in vielem auch vergleichbar sind.

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