US- und EU- Geopolitik: Hybris des Westens

Das Rezept „Demokratie gegen Diktatur“ ist global gesehen zu schlicht. Die USA und Europa müssen sich mit ihrem Bedeutungsverlust auseinandersetzen.

Die Freiheitsstatue hat das Buch in der Hand, die Fackel ist aus ihrer anderen Hand gefallen.

Der Westen: Menschenrechte in der einen, mit der Waffe in der anderen Hand Illustration: Katja Gendikova

Die neue globale Trennungslinie scheint „Demokratie gegen Autokratie“ zu sein. US-Präsident Joe Biden trommelt Demokratiegipfel zusammen, um eine vom Westen angeführte internationale Front gegen die autoritären Bedrohungen aus Russland und China zu bauen. Der Westen scheint seit dem russischen Überfall auf die Ukraine wieder auferstanden zu sein, als moralische Wertegemeinschaft und schlagkräftiger politischer Player. Sogar das etwas ausgebleichte Freiheitsversprechen glänzt wieder.

In Europa wirkt diese Erzählung derzeit aus guten Gründen überzeugend. Putins neoimperiale Aggression zielt über die Ukraine hinaus. Die Sicherheit Europas wird, wie seit 1990 nicht mehr, von dem atomaren Drohungspotenzial der USA gewährleistet. Nur wenn der Westen vereint auftritt, wird er der russischen Aggression langfristig Einhalt gebieten.

Das Bild „Demokratie gegen Diktatur“ mag verführerisch klar sein, aber es ist als globales Rezept zu schlicht. Olaf Scholz, ansonsten Bidens treuer Verbündeter, reiht sich zu Recht nur halbherzig in den Feldzug gegen die Diktaturen ein und warnt in einem Beitrag für die Zeitschrift Foreign Affairs vor „einer neuen Zweiteilung der Welt in Demokratien und autoritäre Staaten“. Es gibt triftige Gründe, die gegen die gefeierte Renaissance des Westens sprechen – und noch mehr gegen die Aufspaltung der Welt in ein moralisch überlegenes, überwiegend weißes Zentrum und einen autoritären Rest.

Vielleicht ist die Beschwörung westlicher Werte nur die Begleitmusik, die den globalen Niedergang der USA und Europas übertönen soll. Die USA haben vor 20 Jahren noch achtmal so viele Waren und Dienstleistungen hergestellt wie China, heute ist dieser Vorsprung auf 25 Prozent geschrumpft. In den 38 OECD-Staaten, die sich Demokratie und Marktwirtschaft verpflichtet fühlen, also im erweiterten Westen, leben nur 16 Prozent der Weltbevölkerung. Global unangefochten führend ist der Westen nur in einem Metier: Waffen. Die USA geben doppelt so viel Geld für Rüstung aus wie Russland, China und Indien zusammen. In den Nato-Staaten lebt ein Achtel der Weltbevölkerung – aber sie zahlen 50 Prozent der globalen Rüstungsausgaben.

Selbstbestimmung nur für weiße Europäer gedacht

Um die Ambivalenz des mit Waffen und Weltanschauung ausgerüsteten Westens zu verstehen, nutzt ein Blick zurück auf den Moment, in dem der Westen als Verbindung der Macht­zentren USA und Europa auf der Weltbühne erschien. Die Vereinigten Staaten traten 1917 auf der Seiten von Frankreich und Großbritannien, den europäischen Demokratien, in den Ersten Weltkrieg ein. ­Woodrow Wilson fuhr 1919, als erster US-Präsident überhaupt, ins Ausland.

In den früheren Kolonien schaut man auf die westlichen Werte verständlicherweise mit einer gewissen Skepsis

Er reiste mit einer großformatigen Idee im Gepäck nach Europa – dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, das zwischen Paris und Belgrad eine gerechte Nachkriegsordnung stiften sollte. Mit Wilsons Reise begann das amerikanische Jahrhundert, in dem die USA in der Doppelrolle als Weltpolizist und Lehrmeister in Sachen Demokratie aufzutreten gedachten. Inder und Vietnamesen, Ägypter, Koreaner und Chinesen waren begeistert von Wilsons Idee, dass die Völker fortan selbst über ihr Schicksal bestimmen sollten. Und sie wurden bitter enttäuscht.

Denn Selbstbestimmung war nur für weiße Europäer gedacht, nicht aber für Bewohner der europäischen Kolonien. Ein 25-jähriger chinesischer Intellektueller notierte 1919 nach dem frustrierenden Ende der Versailler Verhandlungen in sein Tagebuch: „So viel zur nationalen Selbstbestimmung.“ Sein Name war Mao Zedong. Die Verwandlung prowestlicher asiatischer Idealisten in Kommunisten ist, wie der Publizist Pankaj Mishra gezeigt hat, ohne den Rassismus des Westens kaum zu verstehen.

Menschenrechte mit eigenen Interessen abgeglichen

Die Apologeten des Westens betonen heute, dass all das lange her ist. Zudem verfüge der Westen über die Fähigkeit zu Selbstkorrektur und selbstkritischer Vergangenheitsbearbeitung. In den früheren Kolonien schaut man auf die westlichen Werte, vor allem wenn sie von moralischen Fanfarenstößen begleitet werden, verständlicherweise mit einer gewissen Skepsis.

Zudem zeigen zwei Beispiele, dass der Westen Werte und Menschenrechte noch immer kühl mit eigenen Interessen abgleicht. Erstens: Saudi-Arabien führt im Windschatten des öffentlichen Interesses einen brutalen Krieg im Jemen. Es gibt in diesem Stellvertreterkrieg, in dem Iran die andere Seite unterstützt, laut der UNO 380.000 Opfer. Wirtschaftssanktionen gegen Riad? Im Gegenteil. Saudi-Arabien ist seit Jahrzehnten mit dem Westen verbündet und ein verlässlicher Öllieferant. Und EU- und Nato-Staaten beliefern Saudi-Arabien mit Waffen. Die Unterstellung, dass sich der Westen um die Ukraine kümmert, weil dort weiße Europäer sterben, wirkt angesichts des Grauens der russischen Kriegsführung kaltherzig. Völlig abwegig ist sie nicht.

Zweitens: Der Westen hat nach 1990 die Chance verspielt, als Sieger des Kalten Krieges eine stabile Ordnung zu schaffen. Die USA haben in Afghanistan und Irak im Namen von „Menschenrechten und Demokratie“ (George W. Bush) vielmehr genau das Muster wiederholt, das dafür sorgt, dass westliche Werte in vielen Regionen der Welt als Hohn empfunden werden. Beides waren neo­kolonial gefärbte Kriege.

Im Falle des Iraks schufen die USA durch ihren Angriffskrieg mit dem Islamischen Staat erst das Monster, das sie zu bekämpfen angetreten waren. Wenn die USA nach 2000 als Weltpolizist auftraten, dann meist als ein unfähiger Macho-Cop, der auf eigene Rechnung arbeitete und dem das Gemeinwohl schnurz war. „Nichts untergräbt die Idee des Westens mehr als die Verwestlichung mit vorgehaltenem Gewehr, wie sie vom 19. bis ins 21. Jahrhundert immer wieder praktiziert wurde“, so der US-Historiker ­Michael Kimmage.

Ideologen des Westens wie der Publizist ­Richard Herzinger bauen unverdrossen weiter auf dieses Konzept. „Wenn die demokratische Welt Einigkeit, politische Entschlossenheit und militärische Stärke mit konsequentem Eintreten für Freiheitsrechte überall auf dem Globus verbindet, wird sie auch künftig die bestimmende weltpolitische Kraft sein“, so Herzinger. Es gilt also weiterhin den Globus mit den Segnungen des Liberalismus zu beglücken – mit den Menschenrechten in der einen Hand, überlegener Feuerkraft in der anderen. So klingt eine lernunfähige, liberale Ideologie, die blind dafür ist, dass die Mischung aus zivilisatorischem Sendungsbewusstsein und rüder Interessenpolitik in vielen Regionen als Neuauflage des Imperialismus des 19. Jahrhunderts verstanden wird.

Politische Hartwährung im Ost-West-Konflikt

Es stimmt: Mächtige Autokraten instrumentalisieren die Kritik an der Doppelzüngigkeit des Westens, um weiter ungestört die eigene Bevölkerung zu schikanieren. Vor allem Putin und die russische Propaganda bedienen sich oft surrealer, vor Hass triefender antiwestlicher Klischees, um die eigene Herrschaft zu festigen. Doch das schafft die Frage nach der Doppelmoral des Westen nicht aus der Welt. Im Gegenteil.

Es gibt in der jüngeren Geschichte in der Tat einen glanzvollen Augenblick, in dem es dem Westen gelungen ist, Menschenrechte produktiv als außenpolitischen Faktor einzusetzen. 1975 verpflichteten sich in der KSZE-Schlussakte auch die realsozialistischen Regime darauf, die „universelle Bedeutung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten“ zu achten.

Damit wurden Menschenrechte eine Art politischer Hartwährung im Ost-West-Konflikt, mit subversiver Kraft. Die Bürgerbewegungen im Osten nutzten die KSZE-Schlussakte, um die eklatanten Widersprüche der staatssozialistischen Regime bloßzulegen. Der Kalte Krieg war auch eine Konkurrenz von zwei Systemen, die beide universelle Geltung beanspruchten. Der Kampf wurde auch auf dem Feld von Ideen und Werten ausgetragen.

Es spricht allerdings nichts dafür, dass es in dem prägenden Konflikt des 21. Jahrhunderts zwischen China und den USA einen KSZE-Moment geben wird. Peking hat, anders als der Staats­sozialismus, keine Botschaft. Es will Handelsstraßen, Absatzmärkte und Einflusszonen, aber kein Modell für andere Länder sein. Weil es keine universell angelegte chinesische Erzählung gibt, die durch Realitätschecks blamiert werden könnte, ist Peking unempfindlich gegen moralische Vorhaltungen. Eine auftrumpfende Menschenrechts- und Demokratierhetorik des Westens hat somit nur begrenzte Reichweite. Womöglich kann sie sogar schaden.

Die Freund-Feind-Logik schadet

Denn das Passepartout „Demokratie versus Diktatur“ verstellt den Blick auf das, was realpolitisch passiert. Der Konkurrenzkampf zwischen der Supermacht des 20. Jahrhunderts und der aufsteigenden Macht des 21. Jahrhunderts ist keiner zwischen Gut und Böse, sondern ein Ringen um geopolitische Einflusszonen. Wenn man sich Paul Kennedys Studie „Aufstieg und Fall der großen Mächte“ vergegenwärtigt, so ist die Geschichte der Imperien durch einen wiederkehrenden Rhythmus von Aufstieg, Überdehnung, Erschöpfung und Abstieg gekennzeichnet. Die USA verlieren derzeit ihren Status als einzige Supermacht, China steigt politisch, ökonomisch und militärisch zum globalen Konkurrenten auf. Die letzten 500 Jahre machen wenig Hoffnung, dass solche gleich­zeitigen Auf- und Abstiege unblutig verlaufen.

Auch das spricht dagegen, sich eine schlichte Freund-Feind-Logik, Demokratie gegen Diktatur, zu eigen zu machen. Diese Blickverengung erschwert jene Kompromissbildungen, die nötig sind, um die Rivalität zwischen den USA und China zu entschärfen und in zivile Bahnen zu lenken. Zudem existiert mit dem Klimawandel etwas welthistorisch Neues – auch ärgste Gegner sind gezwungen zu kooperieren.

Der Westen wird ein Machtblock unter mehreren werden. Er wird sich gegen aggressive Autokraten behaupten müssen. Seine zentrale Aufgabe aber wird sein, den eigenen Abstieg klüger zu managen als seinen Sieg 1990. Er muss sich von dem zerstörerischen Traum verabschieden, dass es seine Mission ist, die Welt nach seinem eigenen Bild zu formen. Der Westen sollte die universellen Menschenrechte keinesfalls aufgeben, aber aufhören, sie wie einen moralischen Besitzstand zu verwalten, den man in passenden Momenten einsetzt. Der Westen muss, will er eine Zukunft haben, seine eigene Hybris einhegen.

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