Regenwald in Gefahr: Kippt Amazonien, kippt das Klima

Der Mensch treibt den größten Regenwald der Welt an den Abgrund. Über Risiken und Wirkungen von Abholzung sind sich nicht alle Ex­per­t:in­nen einig.

Rauch im Regenwald

Rauch über dem Regenwald im brasilianischen Pará am Amazonas Foto: Fernando Souza/imago

Im westlichen Amazonien scheint die Welt noch in Ordnung zu sein. In den Wäldern Kolumbiens, Perus, Venezuelas und Boliviens regnet es das Zehnfache von Berlin: 3 bis 5 Meter im Jahr, pro Quadratmeter. Die Trockenzeit ist kurz, die Regenzeit lang. Anders jedoch im brasilianischen Süden und Osten: Mehr als 75 Prozent des Regenwaldes verlieren dort an Widerstandsfähigkeit. Abholzung, teils illegal, und der Klimawandel raffen den Wald dahin. Er kann sich nach Dürren oder Waldbränden immer schlechter erholen. Ex­per­t:in­nen befürchten ein Absterben des artenreichsten Ökosystems dieser Erde.

Ein kaputter Wald würde die hunderten indigenen Gruppen des Amazonasgebiets besonders treffen. Sie leben von ihm und schützen ihn. Zudem ist fast jede dritte Tier- und Pflanzenart der Welt in Amazonien heimisch: vom 15 Zentimeter kleinen Zwergseidenäffchen bis zum fast drei Meter großen Arapaima.

Aber auch für den Rest der Welt wären die Folgen spürbar: Würgefeigen, Paranussbäume oder Palisander, bis zu 60 Meter hoch, erzeugen Niederschlag, der nach Nordamerika bis in die Sierra Nevada und die Rocky Mountains getragen wird. Sterben die Bäume, regnet es dort seltener und unregelmäßiger. Der Wald speichert zudem so viel CO2, wie die Menschheit in vier bis fünf Jahren in die Luft bläst. Die zusätzlichen Emissionen könnten das weltweite Klima aus dem Gleichgewicht bringen. Noch stärker als ohnehin schon.

Dass bei mehr als drei Viertel der Fläche des brasilianischen Regenwaldes die Widerstandsfähigkeit abnehme, sei ein deutliches Frühwarnsignal, erklärt Chris Boulton von der University of Exeter. Boulton ist Mathematiker und forscht seit mehr als zehn Jahren zu „Kipppunkten“.

Das sind Meeres- und Luftströmungen, Gletscher oder Ökosysteme, die mit fortschreitender Erd­erhitzung aus dem Gleichgewicht fallen und die Erderhitzung unumkehrbar beschleunigen. Je heißer es wird, desto mehr der rund 16 Kipppunkte werden ausgelöst. Dazu zählt auch der Amazonas-Regenwald. Kippt er, wird der Regenwald zur Savanne. Das kann man sich wie beim Jenga-Spiel vorstellen: Nimmt man ihm zu viel Holz weg, beginnt er irgendwann zu wackeln und bricht zusammen.

Wie schlimm ist die Lage?

Wie groß ist das Risiko, dass der Wald tatsächlich kippt? „Wir befinden uns am Rande des Abgrunds“, sagt der Regenwaldexperte Carlos Nobre. Er ist ein enger Berater der brasilianischen Regierung unter Präsident Luiz Inácio Lula Da Silva, genannt Lula, und forscht an der Universität von São Paulo. Vor mehr als 30 Jahren warnte Nobre, als einer der ersten, dass es wegen der hohen Abholzung bald keinen Wald mehr geben werde.

Zu Beginn dieses Jahres sind rund 18 Prozent des ursprünglichen Regenwaldes abgeholzt. Etwa ein Drittel der verbliebenen Waldfläche ist zudem degradiert. Das ist doppelt so viel wie bisher angenommen. An diesen Stellen ist der Wald ausgedünnt, trockener und leichter entflammbar, weshalb For­sche­r:in­nen vor „Megabränden“ warnen.

Der Kipppunkt ist damit näher gerückt, als selbst Nobre damals dachte: „Wenn die Abholzung 20 bis 25 Prozent übersteigt und sich das Klima um 2,5 Grad erhitzt, beginnt der Wald zu kippen“, sagt der Klimaforscher mittlerweile. Weil die Abholzung schon weit fortgeschritten ist, warnte er gemeinsam mit dem kürzlich verstorbenen Thomas E. Lovejoy 2018 im Fachmagazin Science Advanceserneut vor dem Kipppunkt; und auch 2019. Doch bisher halfen die Warnungen wenig. Im Februar 2023 wurden in Brasilien über 300 Quadratkilometer Regenwald zerstört – eine Fläche größer als München.

Die Rolle des Klimawandels

Nicht nur die extrem hohe Abholzung, sondern auch der Klimawandel setzt dem Regenwald stark zu. Das Amazonasgebiet ist bereits um 2 Grad heißer geworden. Und es regnet seltener: „Heute ist die Trockenzeit vier bis fünf Wochen länger als vor vierzig Jahren. Jedes Jahrzehnt wird sie eine Woche länger“, sagt Nobre. Mittlerweile dauere es vier bis fünf Monate, bis der Regen komme.

Zudem häufen und verstärken sich Wetterextreme: „Früher gab es eine schwere Dürre alle 15 bis 20 Jahre“, sagt der Klimaforscher. „Heute sind es zwei schwere Dürren alle zehn Jahre: 2005, 2010, 2015 bis 2016 und 2020.“ An eine längere Trockenzeit seien die meisten Bäume aber nicht angepasst.

Derzeit steuert die Welt auf 2,7 Grad Erderhitzung zu. Diese Zahl beruhe aber auf politischen Versprechen und ignoriere den Hitzefaktor Kipppunkte, erklärt Carlos Nobre. Ein sterbender Amazonas-Regenwald würde bis zu 200 Milliarden Tonnen CO2 zusätzlich freisetzen. Schon heute sei der Regenwald in manchen Jahren eine CO2-Quelle. Er stieß etwa 2019 und 2020 mehr Kohlenstoffdioxid aus, als er speicherte.

Carlos Nobre, Regenwaldexperte

„Wenn die Abholzung 20 bis 25 Prozent übersteigt, beginnt der Wald zu kippen“

Marina Hirota ist weniger pessimistisch. Sie forscht wie der Mathematiker Boulton und der Klimaforscher Nobre zum Amazonas-Kipppunkt. „Ich habe unter Carlos Nobre promoviert, aber wir sind nicht in allen Punkten einer Meinung“, sagt Hirota. Für sie deute aus den Forschungsdaten wenig darauf hin, dass der ganze Regenwald zur Savanne werde. Noch könne er sich gut selbst erhalten: Die Bäume, Lianen und Sträucher produzieren die Hälfte des Niederschlags selbst. Sie recyceln dafür fünf- bis sechsmal das Wasser aus den Luftmassen, die vom Atlantik über das Amazonasgebiet nach Westen ziehen.

Eingeschränkter Optimismus

Eine Entwarnung also? Nein: „Ob der Wald nun kippt oder nicht, er verändert sich bereits und wird immer schwächer“, sagt Hirota.

Präsident Lula, der den Rechtsextremen Jair Bolsonaro ablöste, gibt Hirota und Nobre aber Hoffnung. „Lula setzt sich für ein Ende der Abholzung ein“, erklärt Nobre, der die Regierung zum Umgang mit dem Regenwald berät. Allerdings brauche es alle neun Amazonas-Staaten, um die Abholzung effektiv zu stoppen. Zumindest Gustavo Petro, Präsident Kolumbiens, wo 13 Prozent des Waldes liegen, setzt sich auch dafür ein.

Auf der Weltklimakonferenz in Ägypten im November 2022 forderte Lula, dass die Industrienationen jährlich 100 Milliarden US-Dollar an Staaten des Globalen Südens zahlen sollten. Seit 2009 liegt das 100-Milliarden-Dollar-Versprechen auf dem Tisch – bis jetzt aber unerfüllt. Mit seinem Anteil möchte Lula die Abholzung in Brasilien bekämpfen. Zudem kündigte er an, die Weltklimakonferenz 2025 im Amazonasgebiet abzuhalten. Bis dahin zeigt sich, ob Lulas „Null-Abholzung“-Versprechen eine Utopie bleibt oder zur Realität wird.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.