Versammlungsfreiheit in Frankreich: Chemie gegen die Presse

Französische Ordnungskräfte markieren mutmaßliche Gewalttäter mit einer chemischen Substanz. Nun ist auch ein Journalist unter den Festgenommenen.

Brennende Polizeifahrzeuge auf einer Wiese

Brennende Polizeifahrzeuge nach gewalttätigen Auseinandersetzungen im französischen Sainte-Soline Foto: Pascal Lachenaud/afp/dpa

PARIS taz | Erstmals wurde in Frankreich in Sainte-Soline bei einer Kundgebung von den Ordnungskräften ein chemisches Produkt zur Markierung (PMC) und späteren Identifizierung von mutmaßlich gewalttätigen Demonstrierenden eingesetzt, die nicht direkt bei auf den Demos festgenommen werden konnten.

Dazu wird mit einem speziellen Gewehr vom Typ EMF-100 auf Distanz eine mit bloßem Auge unsichtbare Substanz auf Personen geschossen, die damit im Fall einer späteren Festnahme, auch noch viele Tage oder sogar Wochen später, mit Hilfe von UV-Lampen identifiziert werden können.

Mit dieser Markierungstechnologie ergänzen Polizei und Gendarmerie in Frankreich ihr Waffenarsenal, zu dem bereits äußerst umstrittene Gase, Granaten und Hartgummigeschosse gehören, die in anderen Ländern auf der Kriegsmaterialliste stehen und dort nicht für „zivile“ Ordnungseinsätze zugelassen sind. Der rechtliche Rahmen für den PMC-Einsatz ist nach Ansicht von Anwälten unklar. Offiziell handelt es sich seit 2019 um ein „Experiment“.

Dennoch wurden nun zwei Personen, darunter ein freier Journalist, mithilfe eines von Kriminalisten sichtbar gemachten, kodierten Tintenflecks wegen angeblicher „Teilnahme an einer Versammlung zwecks vorsätzlicher Gewalt und Sachbeschädigung“ in Gewahrsam genommen und 28 Stunden lang festgehalten.

Journalist bei Berichterstattung festgenommen

Der 34-jährige Clément B. arbeitet für diverse Medien, darunter Le Monde und Sendungen von öffentlichen Rundfunkstationen. Am 26. März war er mit Mikrofon und Aufnahmegerät im südwestfranzösischen Dorf Melle in der Nähe von Sainte-Soline bei einem Festival, auf dem mehrere tausend Menschen gegen künstliche Seen zur Bewässerung einiger weniger Landwirtschaftsbetriebe demonstrierten. Bei der kurzfristig verbotenen Kundgebung kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen. Mehr als 200 Personen wurden auf beiden Seiten verletzt, darunter drei Demonstrierende sehr schwer. Journalist Clément B. wurde mehrere Stunden nach diesen Auseinandersetzungen bei Melle von der Polizei angehalten und trotz Presseausweis zur Kontrolle abgeführt.

Was auf dem Gendarmerieposten geschah, erinnert ihn immer noch an einen schlechten Science-Fiction-Film. Mithilfe einer UV-Lampe machten die Beamten auf seiner rechten Hand einen kleinen Farbstreifen sichtbar. Ein Abstrich davon wurde – als Beweis oder zur Kontrolle? – zur weiteren Überprüfung in das Kriminalistiklabor gebracht. Clément B. aber galt angeblich schon als „überführt“.

Denn die Markierungssubstand enthält unter anderem, wie auch die menschliche DNA, Nukleotide und eine Kodierung, die bei jedem Einsatz wechselt. Das macht es, jedenfalls auf dem Papier, möglich, Ort und Zeitpunkt zu bestimmen, an dem der betreffende Mensch markiert wurde. Clément B. bestreitet laut seiner Anwältin Chloë Chalot, bei der fraglichen Demo dabei gewesen zu sein. Wie der verräterische „Tintenfleck“ auf seine Hand gelangen konnte, weiß er nicht.

Die Taktik bei Ordnungseinsätzen gegen Demonstrationen und die Bewaffnung der Polizei und Gendarmerie – sie sind Teil der französischen Streitkräfte – erregt Besorgnis beim Europarat und auch beim Umwelt-Sonderbeauftragten der UNO, Michel Frost. Er kritisierte nach den Ereignissen in Saint-Soline im Onlinemagazin Mediapart „eine von einer immer virulenteren Rhetorik begleitete verschärfte Repression gegen Umweltbewegungen“.

Innenminister spricht von „Öko-Terroristen“

Innenminister Gérald Darmanin bezeichnete die militanten Gegner der Privatisierung des Wassers zugunsten weniger Agrarbetriebe als „Öko-Terroristen“. Er fordert in diesem Sinne ein Verbot der Umweltorganisation Soulèvements de la Terre. Auch erwog er, der französischen Menschenrechtsliga die öffentlichen Subventionen zu streichen, weil sie sich kritisch zum Vorgehen in Sainte-Soline geäußert und gesagt hatte, wegen einer polizeilichen Anordnung seien Schwerverletzte erst mit mehr als einer Stunde Verspätung ins Krankenhaus gebracht worden.

Bereits bei den Protestaktionen der Gelbwesten reagierten die Behörden laut einem Bericht von Amnesty International mit außerordentlicher Härte. Seit 1999 haben laut der Statistik von Desarmons.net bei polizeilichen Ordnungseinsätzen, meistens durch Gummigeschosse oder Granaten, insgesamt 66 Menschen ein Auge verloren, davon 29 während des Konflikts mit den Gelbwesten 2018/2019.

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