Identitätspolitik in der Kunst: Kunst braucht Eigensinn

Im Zangengriff von Kapital und Identitätspolitik. Aktuelle Diskurse und Wokeness sind nicht zwingend maßgebend für autonom arbeitende Künstler*innen.

Eine Illustration von zwei Personen, die vor einem Gemälde schlafen

Kritik an der Gesellschaft kann in der Kunst enthalten sein, aber sollte keine Pflicht sein Illustration: Katja Gendikova

Politische Einflussnahme sickert durch alle Ritzen. Sie bewirkt eine Domestizierung und Durchverwaltung der Kunst und lässt den Kunstgenuss zu einem Erlebnis werden, das einem beim Gähnen den Kiefer ausrenkt. Viele Rächer der Entrechteten tummeln sich in der Kunstsphäre und lassen ihrer Kontrollwut mit der Biederkeit eines mülltrennenden deutschen Hausmeisters freien Lauf.

Die Lektüre des Buches von Wolfgang Ullrich „Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie“ hat mir den Rest gegeben und mich dazu veranlasst, eine Gegendarstellung zu verfassen. In dem Buch ruft der Leipziger Kunsthistoriker das Ende der autonomen Kunst aus. Er bedauert den Tod der autonomen Kunst zwar, aber er stellt es so dar, als sei der Paradigmenwechsel nun mal unabwendbar, man müsse sich leider damit abfinden. Erstens möchte ich das stark bezweifeln, zweitens wäre das schrecklich, und zwar nicht nur für die ­Künstlerschaft, sondern für die ganze Gesellschaft.

Ich behaupte, die Autonomie der Kunst hat sich parallel mit der Entwicklung der Idee vom Individuum entwickelt, einem Menschenbild, das sich seit der Rückkehr des Humanismus in der Renaissance etablierte. Über die Jahrhunderte bedeutete es die mühsame und gewaltvoll verlaufene Emanzipation des einzelnen Menschen von den Interessen des Staates und der Religion. Seit der Zeit des Kapitalismus hieß das im Kunstbereich auch Emanzipation und Selbstbehauptung von den Interessen des Marktes.

Das steigende Bewusstsein dafür, dass die Interessen der Gesellschaft und die Interessen des Einzelnen mitunter auseinanderklaffen, ist eine Errungenschaft westlicher Gesellschaften. Autonom arbeitende Künst­le­r*in­nen sind das beste Beispiel dafür, dass man sich in einem dauernden Prozess befinden kann, ein Vor-und Zurückpendeln zwischen dem Dasein als soziales und politisches Wesen und der Implosion in inneren Welten. Der kreative Output resultiert aus beidem und ermöglicht eine Offenheit und notwendige Ambivalenz des Kunstwerks.

Außenposition der Künst­le­r*in­nen war lange unangetastet

Das Privileg der Kunst war bisher eher von einer beobachtenden Außenperspektive geprägt, entweder analysierend und rational, auch politisch, oder auf verschlungenen Wegen der unterbewussten Wahrnehmung, des Humors, aus dämonischen Abgründen heraus die Welt zu kommentieren, das Verstörende, das Störende, das Wunderbare am Leben, an den Menschen, an der Gesellschaft und an der Welt.

Diese Außenposition der Künstler*innen, diese Autonomie der Kunst, war einigermaßen unangetastet, es wurde ihnen Narrenfreiheit gewährt, die schwer erkämpft war. Es war dem wohlhabenden Teil der Gesellschaft einen Obolus wert, wie auch der Staat die Existenz der Künst­le­r*in­nen zum Teil großzügig unterstützte und bezahlte.

Es gibt Künstler*innen, die sich als außenstehend-beobachtend empfinden, und jene, die sich mit der Vorstellung wohler fühlen, in einen gesellschaftlichen Kontext eingebettet, also „innen“ zu sein und sich aktionistisch für kritische Themen einzusetzen. Diese Spielarten fließen ineinander, sie bedeuten eine pluralistische Artenvielfalt in der Kultur, die auch Gesellschaft widerspiegelt.

Kritik an der Gesellschaft sollte keine Pflicht sein

Übrigens arbeiten auch Künstlerkollektive meist im Schutzbereich einer freien Kunst, die Künstlerindividuen erkämpft haben. Von den Synergieeffekten profitieren alle Beteiligten und das macht es spannend.

Die Kritik und Teilhabe an der Gesellschaft kann in der Eigenschaft als Künstler oder als Mensch erfolgen, aber sollte keine Pflicht sein. Das aber ist eine sich steigernde Forderung an die Künstlerschaft vonseiten der Politik, zunehmend auch von Kuratoren und Teilen der Künstlerschaft selbst. Wenn die Arbeit nicht auf teils platteste Weise bestimmte Themen mit einbaut, die sich gerade in der politischen Diskussion befinden, möchten sie die Kunst als nicht gesellschaftsrelevant brandmarken. Guter Trick.

Warum möchte man die Kunst aber überhaupt in einengende Begriffe zwängen wie „Autonomie“ oder „Nichtautonomie“ und sie durch die Zwangsmühle holzschnittartiger politischer Überprüfung schicken, die am Ende eine reine Kunstverhinderung darstellt?

Die Rede ist von Identitätspolitik und Genderfragen

Geht es etwa darum, das Individuum als Keimzelle des neoliberalen Bösen zu entlarven und in seine vermeintlich verstaubte Ecke der Geschichte zu stellen? Und die Idee des autonomen Künstlers als Verkörperung des Ultra-Indvidualismus gleich mit? Aber leider entspricht die Ausschließlichkeit, mit der sich politische Fragestellungen in den Vordergrund drängen, nicht den Kontexten und Motivationen, aus denen heraus die meisten Künstler arbeiten.

Eine Illustration des Zentaurus, aus dessen Kopf Rauch qualmt

Bei manchen brodelt die Frust über die Kunst-Debatte so sehr, dass es qualmt Bild: Angela Fette

Von welchen diskursbestimmenden politischen Themen spreche ich eigentlich? Ich spreche von Identitätspolitik, Genderfragen, postkolonialem Diskurs, Rassismus, Klassismus, Klimapolitik. Diese Fragen kann man sehr schön an der Person des Künst­le­r*in aufhängen. Es geht darum, wer es gemacht hat, nicht, was es zu sehen gibt.

Das liefert den Ver­mitt­le­r*in­nen schnell zugängliches Textmaterial, aber die intellektuelle Unterkomplexität der benannten Themen, wenn sie auf Kunst übertragen werden, verursacht Unbehagen bis an die Schmerzgrenze.

Die Vermittlung des Werkes bleibt oft auf der Strecke

Biologistische und biografische Merkmale der Künstler*innen, die in der Identitätspolitik zum Tragen kommen, sind ja einfach zu verstehen und zu vermitteln: Hautfarbe – check, Alter – check, Nationalität – check, Geschlecht – check, Migrationshintergrund – check. Und schon generiert man Bedeutung, man nimmt an „bedeutenden Umwälzungen in der Gesellschaft“ teil.

Die feinfühlige Verarbeitung und Vermittlung des eigentlichen Werkes bleibt dabei oft auf der Strecke, auch systembedingt durch zu viel Druck, zu viel Zeitdruck, wenig Geld für viel Einsatz oder mangelnde Bildung der Kunstvermittler*innen. Zu kompliziert, zu viel Arbeit, sich in das Denken und Fühlen eines/r Künst­ler*­Künst­le­rin reinzufräsen, die verschlungenen Wege vom Kopf und Hirn über die Hand zur Leinwand, auch die Sinnlichkeit der Arbeit nachzuvollziehen und zu vermitteln. Lieber mal gucken, ob alles in der Checkliste stimmt, dann kann man sich ein weiteres Befassen mit der eigentlichen Arbeit gleich sparen.

Auch die für ein funktionierendes Kunstsystem notwendigen Individualitäten des Betrachters und Käufers leiden unter dem verordneten Diskurs. Im Tausch Kunst gegen Geld können sie eine Stärkung der eigenen Überzeugung erleben, die Möglichkeit, das geistig-ethisch-ästhetische Urteil ausleben zu können und sich im inneren Dialog mit dem Kunstwerk wiederzufinden: die Kunst im Auge des Betrachters. Wenn auch das unter einen verordneten Diskurs gestellt wird, schadet das System sich selbst.

Politischer Diskurs ist im modischen Trend

Die starke Verzahnung von Diskurs und Markt tut ihr Übriges. Vom Markt unabhängige Kritik ist rar geworden. Und wer im Diskursbereich die Definitionsmacht darüber hat, welche Kunst relevant ist, hat auch Einfluss darauf, wer auf dem Markt das Geld verdient: Die Kunstkritik liefert dem freien Markt die Verkaufsargumente. Diese gegenseitige Einflussnahme funktioniert in beide Richtungen, ist aber unempfänglich für Einflüsse von außen.

Es geht um Geld. Themen aus dem politischen Diskursbereich sind zu einem modischen Trend und zu Verkaufsargumenten geworden, die Quote bringen und Besucherzahlen steigen lassen. Das ist auch eine eklige Instrumentalisierung und Monetarisierung der eigentlich stattfindenden gesellschaftlichen Umwälzungen für die Kunst. Unter dem Vorwand, eine „bessere gerechtere Welt“ zu schaffen, sollen freie Ausprägungen von Kunst als diskursunwürdig gebrandmarkt und vom Markt gedrängt werden.

Der Staat greift passiv-aggressiv ein, zum Beispiel, indem er Geld bewilligt oder nicht. Indem er Jobs vergibt oder nicht. Indem er Geld für Ausstellungen dazugibt oder nicht. Auch hier greift die biologistisch-biografische Checkliste.

Diese Phänomene führen zu einer Verengung und Verkürzung im Diskurs und machen die notwendige Offenheit und Ambivalenz unmöglich. Die Verengung auf politische Diskurse und die strenge Trennung in Disziplinen dient im Endeffekt der Spaltung und Schwächung der Künstlerschaft.

Kunst als Propaganda

Besonders schädlich ist diese Attacke auf freie Kunst, wenn sie aus den eigenen Reihen kommt. Der Trick ist, die traditionelle Idee der oft männlich weiß geprägten klassischen Avantgarden zu verdammen, um nach eigenen Maßstäben eine neue fremdbestimmte Pseudo-Avantgarde zu formen, die sich den verordneten politischen Themen widmet. Der angebliche Paradigmenwechsel ist da.

Dabei benutzt diese „aufgeklärte“ Bewegung die gleiche chauvinistisch-provokative Attitüde, totalitär, exklusiv, autoritär und absolutistisch, wie schon die klassischen Avantgarden: Alle weg da, jetzt kommen wir. Im Endeffekt sägen sie aber an dem Ast, auf dem sie sitzen, es sei denn, es gäbe irgendwann eine vollständig abgeschlossene Kernschmelze von Kunst und Politik. Voilà, dann haben wir wieder Kunst als Propaganda.

Auf diese Weise ist die neue identitätspolitische Pseudo-Avantgarde das Reaktionärste, Biederste, Langweiligste, was sich derzeit auf dem bunten Jahrmarkt der Diskurse und Kunstszenen finden lässt.

Also: Lasst die Kunst in Ruhe! Wenn Kunst weiter der Spiegel einer pluralistischen Gesellschaft bleiben soll, müssen wir vorsichtig damit umgehen, was wir ihr aufhalsen.

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ist freie Künstlerin, Musikerin und Mitglied der Kunstkommission Düsseldorf. Sie betreibt einen Salon namens „Eyes Wide Shut “ in ihrem Atelier.

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