Alltag im russisch besetzten Mariupol: Alles nur Fassade

Die schwer zerstörte ukrainische Stadt ist nur noch von Russland aus zugänglich. Die Menschen leiden unter der Kälte, der Aufbau läuft schleppend.

Neubauten vor kriegszerstörten Häusern

Neubauten können nicht über die humanitäre Krise hinwegtäuschen Foto: Alexander Ermochenko/reuters

DNIPRO taz | Nach Mariupol führt heute aus der Ukrai­ne kein Weg mehr. Die Stadt erreicht man nur noch von Russland aus. Die russische Armee hatte die Hafenstadt am Asowschen Meer gleich zu Beginn der Invasion 2022 vollständig eingekesselt und die Stromversorgung gekappt. Deshalb konnte kein Wasser mehr in die Stadt gepumpt werden. Durch die Sprengung einer Gasleitung gab es auch schnell kein Gas mehr.

Drei Monate lang lebten somit gut 400.000 Menschen, die Mariupol nicht rechtzeitig hatten verlassen können, ohne Wasser, Heizung, Strom, Gas, Telefon- und Internetverbindung. In der Stadt herrschte Hunger.

Der eigentliche Horror war jedoch der fast pausenlose Beschuss, durch den Dutzende Menschen im wahrsten Sinne des Wortes den Verstand verloren. „In dem Keller, in dem wir uns versteckten, ist eine Frau vor Angst wahnsinnig geworden. Sie hat den täglichen Bombenhagel psychisch einfach nicht ausgehalten. Sie lief herum, fasste uns ins Gesicht und hörte nicht auf zu lachen. Es war unheimlich und schrecklich“, erzählt Switlana Dejkun, die heute nicht mehr in Mariupol lebt.

Kein einziges Gebäude ist völlig intakt

Von den 32.500 mehrstöckigen Mariupoler Wohnhäusern wurden 1.300 völlig zerstört. In der ganzen Stadt blieb kein einziges Gebäude völlig intakt. Nur fünf Prozent der Schulen und ein einziges Krankenhaus stehen noch. Als die Russen die Kontrolle über die Stadt übernahmen, lebten dort noch ca. 100.000 Menschen.

Im Februar 2022 hatte Mariupol etwa eine halbe Millionen Einwohner. Zu den offiziell registrierten 480.000 kamen noch bis zu 100.000 Geflüchtete aus dem Gebiet Donezk, von denen viele nur temporär in der Stadt lebten.

Die Stadtverwaltung sagt, dass in den ersten Kriegstagen etwa 80.000 Mariupoler die Stadt verlassen hätten. Als die russische Seite ab dem 16. März 2022 private Pkw-Fahrten aus Mariupol genehmigte, retteten sich circa 150.000 Menschen in ukrainisch kontrolliertes Gebiet.

Weitere 100.000 Mariupoler kamen nach Russland, einige reisten von dort weiter nach Europa. Das Schicksal der restlichen 70.000 bis 130.000 Menschen ist unbekannt. Es gibt Gründe zu der Annahme, dass sie nicht mehr leben. Aber die genauen Todeszahlen wird man erst nach der Befreiung der Stadt von russischer Besatzung ermitteln können.

Nach der Beendigung der Kämpfe gab es für die in der Stadt Verbliebenen weder Lebensmittel noch Arbeit. Dringlichste Aufgabe für die russischen Besatzer war darum, schnellstmöglich die Versorgung der Menschen zu sichern, um Aufstände zu verhindern.

Hauptaufgabe: Infrastruktur

Nach Angaben des Mariupoler Vizebürgermeisters, Mychailo Kohut, der während der aktiven Kampfphase für die Verwaltung der Stadt zuständig war, war es den russischen Besetzern wichtig, Fachkräfte für die Wiederherstellung der zerstörten kommunale Infrastruktur zu finden. Deshalb verboten sie entsprechenden Experten unter Androhung von Haftstrafen, die Stadt zu verlassen. Kohut selbst konnte erst im Mai und auch nur durch Bestechung von Soldaten einer Straßensperre aus Mariupol entkommen.

Anschließend half er dabei, die Zerstörungen kommunaler Einrichtungen zu beziffern. Seinen Worten zufolge haben die russischen Besetzer bislang lediglich ein paar provisorische Strom- und Wasserleitungen verlegt, um die aktuell schwersten Versorgungsprobleme der Stadt zu beheben. Die Menschen seien hungrig, erschöpft und sehr wütend.

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„Bis Juni haben wir unser Essen auf offenen Feuern gekocht. Wissen Sie, wie ich den Qualmgeruch hasse? Bis an mein Lebensende werde ich nie wieder grillen. Meine Hände waren schwarz vom Ruß, meine Haare rochen immer nach Rauch. Vier Monate habe ich mich nicht gewaschen. Wenn Sie mich fragen, was ich von Russland halte: Das können Sie gar nicht in einen Artikel schreiben. Es gibt keine anständigen Worte dafür“, erzählt Olena Woron, die in Wirklichkeit anders heißt und noch immer in Mariupol lebt.

Probleme mit Trinkwasser, Heizung und Strom

Im Laufe des Sommers, so Olena, habe sich die Situation in der Stadt leicht stabilisiert. Vor dem Krieg kam das Trinkwasser aus dem Fluss Siverskij Donezk. Da die entsprechenden Wasserleitungen zerbombt wurden, leiten die Besetzer jetzt Wasser aus dem Starokrymske-Reservoir in die Stadt. Das ist allerdings sogenanntes Brauchwasser und für häusliche Bedürfnisse nur bedingt geeignet.

Die Stromversorgung wurde mit provisorischen Leitungen aus dem Bezirk Nowoasowsk wieder hergestellt. Wegen der zu geringen Netzspannung können die Menschen aber meist nur ein Haushaltsgerät zur Zeit benutzen.

„Am Schlimmste ist das Heizungsproblem“, sagt Valerij. Er möchte seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen. „Die meisten Heizkessel funktionieren nicht. Um wenigstens Wohnheime, Schulen und Krankenhäuser mit Wärme zu versorgen, haben die russischen Besetzer mobile Dieselheizgeräte geliefert. Aber kriegsbedingt gibt es immer wieder Brennstoff-Engpässe.“

Dann hätten die Russen vorgeschlagen, elektrisch zu heizen, erzählt der Mann aus Mariupol. „Sie haben sogar gratis entsprechende Heizgeräte verteilt. Aber die Stromnetze konnten der Spannung nicht standhalten. Sie brannten einfach durch, fast täglich kam es zu Haus- und Wohnungsbränden. Dieser Winter war furchtbar“, sagt Valerij. Er hofft jetzt darauf, dass es mit den steigenden Temperaturen leichter wird.

Lebensmittel teurer als in Moskau

Geschäfte und Märkte sind wieder in Betrieb, man kann Lebensmittel kaufen. Aber viele Menschen haben zu wenig Geld. Moskauer Blogger haben bei einem Preisvergleich festgestellt, dass die Preise in der russischen Hauptstadt niedriger sind. Unternehmer, die jetzt nach Mariupol gekommen sind, arbeiten vor allem mit Baufirmen und Bauarbeitern aus Russland. Deren Gehälter sind zwei- bis dreimal höher als die der Einheimischen.

Es sind vor allem alte Menschen, die noch in Mariupol geblieben sind. Ihr Rente bekommen sie jetzt aus Russland in russischen Rubeln ausgezahlt. Die ukrainischen Renten können wegen fehlender Geldautomaten nicht mehr abgehoben werden. Bei vielen reicht das Geld nicht mehr für Lebensmittel. Zwei- bis dreimal wöchentlich verteilen Freiwillige darum Essen, das aus Russland in die Stadt gebracht wird.

Einige Mariupoler haben Arbeit gefunden. Sie werden in russischen Rubeln bezahlt. Doch vor allem für Frauen gibt es nur wenige Stellen. Am schwierigsten ist es für diejenigen, die gerade das Rentenalter erreicht haben, das aber wegen fehlender Unterlagen nicht nachweisen können und zu alt sind, um noch einen Job zu finden.

Auch ein Jahr nach Beginn der russischen Okkupation bleibt Mariu­pol ein Ort der humanitären Krise, an dem die Menschen dringend auf Hilfe angewiesen sind.

Aus dem Ukrainischen Gaby Coldewey

Die Autorin ist ukrainische Journalistin und stammt aus Mariupol. Seit Mitte März 2022 lebt sie im ukrainischen Dnipro, hält aber den Kontakt in ihre alte Heimat.

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