China-Experte über Ukraine und Taiwan: „China ist in einem Dilemma“

Das Land leide unter dem Ukraine-Krieg, so Cheng Li: An einer Blockkonfrontation habe es kein Interesse, an einer Niederlage Russlands aber auch nicht.

Xi Jinping reckt seine Faust

Was ist sein strategisches Ziel? Chinas Präsident Xi Jinping bei seiner Vereidigung Foto: Mark R. Cristino/epa

wochentaz: Herr Li, in Ihrem Buch über die Mittelschicht in Schanghai schreiben Sie, China sei nicht monolithisch. Es gebe eine selbstbewusste Schicht, die sich zu Wort melde. Doch gerade wurde beim Nationalen Volkskongress Xi Jinping einstimmig für eine dritte Amtszeit gewählt. Ist das nicht ein Widerspruch?

Cheng Li: Die chinesische Gesellschaft ist zunehmend pluralistisch geworden. Es gibt verschiedene Stimmen und Perspektiven. Das konnte man während der Covid-Lockdowns sehen. Schanghai hat die größte Mittelschicht, die einem gewissen ausländischen Einfluss ausgesetzt ist. Die Beziehung zwischen der Mittelschicht und dem Staat ist in einer Übergangsphase.

ist ein führender chinesisch-­amerikanischer Experte zur politischen Elite und Gesellschaft Chinas. Er wuchs in Schanghai während der Kultur­revolution auf und studierte ab 1985 in den USA, wo er an der Universität Princeton promovierte. Seit 2014 leitet er das China-Zentrum der Denk­fabrik Brookings in Washington und berät Regierungen, Firmen und Organisationen zu China.

Es gab bei der Abstimmung über Xis beispiellose dritte Amtszeit nicht eine einzige Enthaltung.

Beim Volkskongress sitzen Eliten, Regierungs- und Parteifunktionäre. Ich würde da nicht zu viel hineininterpretieren. Im Fernsehen sahen Sie so viele Delegierte, die Xi Jinping in einem Maße lobten, dass es mich an die Mao-Ära erinnerte. Zugleich ist zu sehen, dass die sozialen Medien in China ganz anders sind. Es gibt eine Menge mehr oder weniger subtiler und manchmal sarkastischer Kritik an diesem Monopol.

Auf dem Volkskongress versprach Xi „eine Große Mauer aus Stahl“, also ein militärisch starkes China. Ist das für den Westen ein Grund zur Sorge?

Nun, Xi Jinping hat eine Menge Dinge gesagt. Er sprach auch davon, dass China zum globalen Frieden beitragen sollte und vieles mehr. Aber natürlich ist sein starkes Narrativ: Mao Tse-tung hat China in den Aufstand geführt, Deng Xiaoping hat China reich gemacht und Xi Jinping macht China stark. Die militärische Modernisierung ist eines seiner wichtigsten Projekte, neben Beseitigung der Armut, grüner Entwicklung und Korruptionsbekämpfung. Die Kommunistische Partei stärkt den militärisch-industriellen Komplex und die Verteidigungsindustrie. Sollte sich die Welt Sorgen machen? Wir sollten dieser Art von Entwicklung mehr Aufmerksamkeit schenken.

Xi warf den USA auch vor, China zu „blockieren, einzukreisen und zu unterdrücken“. Ein Blick auf Karte zeigt eine ganze Reihe von US-Militärstützpunkten in Chinas Nähe, etwa in Südkorea, Japan, den Philippinen und Guam. Ist an Xis Vorwurf also etwas dran?

Es ist kein Geheimnis, dass die USA China eindämmen wollen und viele Leute in Washington sogar von Regimewechsel sprechen. Die indopazifische Koalitionsbildungsstrategie von US-Präsident Joe Biden sieht sogar Taiwan als Nicht-Nato-Verbündeten vor. Also beschließt man all das, verkauft mehr Waffen an Taiwan und schickt mehr Militärausbilder dorthin. Und Japan und Südkorea nehmen an US-Militärübungen teil.

Xi wird nächste Woche in Moskau sein und will laut unbestätigten Berichten anschließend mit dem ukrainischen Präsidenten Selenski telefonieren. Was ist Xis strategisches Ziel?

Anstatt sich auf die Seite Russlands zu stellen, will China eine wichtige Vermittlerrolle spielen. Die Beziehungen zwischen China und der Ukraine sind eigentlich gar nicht so schlecht. Viele ukrainische Wissenschaftler leben und arbeiten in China. Chinas Luft- und Raumfahrtindustrie hat von ihnen profitiert, selbst Chinas erster Flugzeugträger wurde in der Ukraine gebaut. China leistet der Ukraine auch humanitäre Hilfe. Aber die Beziehungen zwischen China und Russland sind in gewisser Weise auch ziemlich gut. Es ist vor allem der gemeinsame Feind, die Vereinigten Staaten, der Peking und Moskau zusammengebracht hat.

Was sind Pekings Interessen bezüglich des Kriegs in der Ukrai­ne?

China leidet wirtschaftlich unter dem Krieg. Außerdem verstärkt er ein derzeit gängiges Narrativ, das China schadet: „Heute gibt es Krieg in der Ukraine, morgen gibt es Krieg in Taiwan.“ Es hört sich so an, als sei ein Angriff Chinas schon geplant und unvermeidlich. Das ist aber nicht die offizielle Politik Chinas. Auch die Sichtweise, der Kalte Krieg sei wieder da, also ein Block, angeführt von China und verbündet mit Iran, ist nicht in Pekings Interesse. China ist an dieser Art von Provokation nicht interessiert.

Der Grund, warum China Russland für den Angriff auf die Ukraine nicht verurteilt hat, ist, dass man in Peking denkt: Wenn wir Russland verurteilen, sollten wir auch die Nato-Erweiterung verurteilen. Natürlich will China nicht, dass Russland jetzt vollständig besiegt wird, denn wenn das passieren würde, könnte China als Nächstes dran sein. Das ist das Dilemma, in dem sich China befindet.

China ist eher an einer multipolaren Welt interessiert als an zwei Blöcken?

Genau. Im Hinblick auf den Klimawandel, die Nichtverbreitung von Kernwaffen, die Cybersicherheit und Terrorismusbekämpfung versucht China, eine wichtige Rolle zu spielen: Pekings diplomatische Offensive – der 12-Punkte-Plan für die Ukrai­ne, die Vermittlung zwischen Iran und Saudi-Arabien. Wir werden sehen, ob China auch eigene Druckmittel und Anreize dafür einsetzen kann, eine weitere Verhandlungsrunde zwischen Israel und einigen arabischen Ländern einzuleiten. Das alles gehört zu einer Kampagne, mit der versucht wird, das schlechte Image Chinas zu ändern und die Isolierung durch eine von den USA geführte Koalition zu vermeiden. China wendet sich an den Globalen Süden, aber vor allem an die europäischen Länder. Aber es scheint, als wäre Europa noch nicht so weit. Ich weiß nicht, ob die Zeit für China reif ist, um wirklich eine positive Rolle zu spielen.

Die US-Regierung wirft China vielmehr vor, Waffenlieferungen an Russland zu planen. Was ist da dran?

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Ich bin nicht in der Lage, diese Frage zu beantworten. Ich habe keine Beweise.

Wie interpretieren Sie die Motive der US-Seite?

In Washington ist es üblich, über China zu lästern und es zu kritisieren, das kostet nichts und wird strategisch eingesetzt. Chinesische Waffenlieferungen würde sicherlich eine negative Sicht der Öffentlichkeit stärken und die europäischen Länder noch wütender und misstrauischer gegenüber China machen.

Der US-General Mike Minihan warnte im Januar vor einem Angriff Chinas auf Taiwan in zwei Jahren. Ist das rea­lis­tisch?

Ich denke, dieser Offizier hat nicht für die US-Regierung gesprochen. Ich sehe wirklich keine eindeutigen Beweise dafür, dass die Chinesen einen klaren Plan für einen Angriff auf Taiwan haben. Andererseits könnte natürlich auch keine chinesische Führung politisch überleben, würde sie Taiwan unabhängig werden lassen. Der Nationalismus überwiegt letztlich immer.

Die USA wiederum sind besorgt über Chinas militärische Aufrüstung, die eine echte Bedrohung für uns darstellen könnte. Es handelt sich also um eine Reaktionsspirale, in der sich Angst und Feindseligkeit gegenseitig verstärken. Die Angst vor einem Taiwankrieg nimmt zu, aber solche Wahrnehmung beeinflusst manchmal auch die Realität. Aber nochmals: Das geschieht nicht. Sie müssen das ins richtige Verhältnis setzen. Die Taiwan-Kriegsgefahr ist da, aber sie ist nicht sehr groß.

Was meinen Sie damit, „das in das richtige Verhältnis“ zu setzen?

Ich bin etwas überrascht über die Angst in Europa, dass Peking Taiwan angreifen wird. Diese Angst hat mehr mit dem Krieg in der Ukraine zu tun als mit der Situation zwischen China und Taiwan.

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