Dokumentarfilm „Liebe Angst“: Überlebt und doch gebrochen

In dem Film „Liebe Angst“ erzählt Sandra Prechtel von einer Mutter-Tochter-Beziehung, die von einer traumatischen Erfahrung im Holocaust geprägt ist.

Kim Seligsohn und ihre Mutter Lore Kübler gehen hintereinander eine Straße entlang.

Komplexe Beziehung: Kim Seligsohn und ihre Mutter Lore Kübler in einer Szene aus dem Film Foto: Susanne Schüle/Real Fiction Filmverleih

„Dein Leben ist eine dauernde Flucht vor dem, was schon passiert ist!“ Das sagt Kim Seligsohn zu ihrer Mutter Lore Kübler, und dieser Satz ist grausam, gerade weil er so hellsichtig ist. Als Sechsjährige wurde Lore Kübler auf einem Berliner Dachboden versteckt, nachdem ihre Mutter Marianne Seligsohn als Jüdin verhaftet und nach Theresienstadt deportiert worden war.

Dieses Trauma beherrschte danach nicht nur Küblers eigenes Leben, sondern auch das ihrer Kinder. Sie selbst wurde eine antifaschistische Aktivistin, und da war kein Platz für den Sohn und die Tochter, die sie in den 1960er-Jahren bekam.

Wenn die Tochter der Mutter ein altes Familienfoto zeigt, erkennt diese nicht mal das eigene Baby im Kinderwagen. Kim Seligsohn ist abgehauen, als 13-Jährige, und nach Berlin gezogen. Ihr Bruder, Tom, blieb bei der Mutter in Bremen, entwickelte eine Psychose und nahm sich mit 20 Jahren das Leben.

Eine weiß Gott nicht unbeschwerte Geschichte also, die sich Sandra Prechtel vorgenommen hat für ihren Film „Liebe Angst“. Wie zwanghaft sammelt Kübler heute selbst geschriebene Notizen. Und sie schreibt täglich Artikel aus dem Weser-Kurier ab, für ihr „Archiv“: Für sie gilt, dass nur, wer etwas Geschriebenes aufbewahrt, danach nicht so spurlos verschwinden kann, wie es damals mit ihrer Mutter geschah.

„Liebe Angst“. Re­gie: ­San­dra Prechtel, Deutschland 2022, 81 Minuten.

Der Film läuft seit 23. 3. in Bremen, City 46; Hamburg, Abaton; Hannover, Kino im Künstlerhaus. Sondervorstellungen: 29. 3. (mit Gespräch), 1. + 2. 4., Lübeck, Kommunales Kino; 1. 6., Hamburg, Lichtmess

Spuren hinterlassen haben die Vernachlässigung und das Trauma, über das ihre Mutter nie sprach, auch bei Kim Seligsohn. Ihr aber gelang es, sich in die Kunst zu flüchten: Als Sängerin verarbeitet sie Namen und Adressen deportierter Jüdinnen und Juden – oder auch Fragmente von Küblers Notizzetteln – in klassisch anmutenden Liedern.

Auch Kim Seligsohn lebt prekär, hat lange unter einer Angstneurose gelitten und verdient als 54-Jährige Geld vor allem dadurch, dass sie die Hunde fremder Menschen spazieren führt. Ein von Seligsohn gesungenes Lied wird im Film wie ein Leitmotiv eingesetzt: das Spiritual „Some­times I Feel Like A Motherless Child“. Es passt, als wäre es für sie geschrieben worden.

Sandra Prechtel dokumentiert in ihrem Film, wie diese beiden Frauen versuchen, sich einander anzunähern. Kim Seligsohn fährt oft mit dem Zug von Berlin nach Bremen, um ihre Mutter dort in ihrer mit Papier vollgestopften Wohnung zu besuchen. Manchmal wird sie so ungnädig empfangen, dass sie gleich wieder umkehrt und neun Stunden zurückfährt. Manchmal sprechen die beiden Frauen aber auch miteinander: über ihre Vergangenheit, ihr Leben und ihr Verhältnis zueinander.

Prechtel gelingt es, solche seltenen Momente mit der Kamera einzufangen, ohne dass es jemals so wirkt, als käme sie ihren Protagonistinnen dabei zu nah. Die Filmemacherin wird dem Vertrauen der beiden Frauen gerecht, indem sie die beiden nicht als Opfer und psychisch Kranke porträtiert, sondern als starke Frauen, die eine lebenslange Bürde mit Würde tragen: die Schuldgefühle der Überlebenden.

Beide Frauen werden gezeigt in ihren Lebenswelten: Die eine sammelt, die andere singt – und beide sind dabei fast immer allein. Nur einmal kommen Familienangehörige aus Papua-Neuguinea zu Besuch, wohin ein Bruder Lore Küblers ausgewandert ist: Weil er „nicht mehr in dem Land leben wollte, das seine Mutter ermordete“.

Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie darüber mit jemandem. Sie können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (☎ 0800-111 0 111 oder ☎ 0800-111 0 222) oder www.telefonseelsorge.de besuchen.

Also kommt einmal eine große Familie mit kleinen Kindern und Kims Kusinen nach Berlin. Aber die herzlich-familiäre Atmosphäre macht nur noch deutlicher, wie einsam das Leben von Lore und Kim ansonsten ist. Und noch etwas fällt auf: Auch bei den Besucherinnen fehlen die Männer – und die Frauen erzählen, wie sehr auch Lores ausgewanderter Bruder ein ruhelos Getriebener war, der sich nicht um seine Familie kümmern wollte oder konnte.

Sandra Prechtel hat sich als Autorin von Radiofeatures und mit der Regie des Künstlerporträts „Roland Klick – The Heart is a Hungry Hunter“ einen Namen gemacht. Mit viel Empathie, aber auch dem Stilgefühl einer guten Filmemacherin, erzählt sie nun die Geschichte eines schwierigen Verhältnisses.

Viele Sequenzen, etwa der Familienbesuch aus Übersee mögen arrangiert sein; und wenn Lore einen einsamen Spaziergang durch den nächtlichen Bremer Hafen macht, dann tut sie dies für offensichtlich gestellte Stimmungsbilder. Aber dennoch hat man das Gefühl, die beiden Protagonistinnen sind bei den Aufnahmen immer ganz bei sich – und in den letzten Bilden des Films dann sogar beieinander. Und Lore Kübler, die glaubte, sich nur durch das Sammeln und Bewahren vor dem Verschwinden retten zu können: Sie wird nun, dank dieses Films, nicht vergessen werden.

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