Urteil des Europäischen Gerichtshofs: Schadenersatz für Thermofenster

Der EuGH hat entschieden, dass Käufer von Dieselautos mit manipulierter Abgasreinigung leichter klagen können. Für Hersteller kann das teuer werden.

Qualmender Auspuff

Dieselkäufer deren Abgasreinigung manipuliert war, können leichter gegen die Hersteller klagen Foto: Christian Ohde/imago

FREIBURG taz | Wahrscheinlich haben Millionen Dieselkäufer Anspruch auf Schadenersatz gegen die Kfz-Hersteller. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat an diesem Dienstag in einem Grundsatzurteil entschieden, dass die illegale Manipulation der Abgasreinigung von Dieselmotoren im Prinzip zu Schadenersatz berechtigt. Damit ist der EuGH kundenfreundlicher als die bisherige deutsche Rechtsprechung.

Bisher hat der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe nur Dieselkäufern mit dem VW-Motor EA 189 Schadenersatz zugebilligt. Bei diesen Motoren hatte VW eine Betrugs-Software eingesetzt, die dafür sorgte, dass die Abgasreinigung nur auf dem Prüfstand richtig funktionierte, im normalen Straßenverkehr aber nicht. Darin sah der BGH im Mai 2020 eine „vorsätzliche sittenwidrige“ Schädigung der Kunden. Die Handlung sei verwerflich gewesen, weil auch das Kraftfahrbundesamt getäuscht wurde.

Bei den sogenannten Ther­mofenstern hat der BGH bisher Schadenersatz verweigert. Thermofenster nennt man eine Software, die dafür sorgt, dass die Abgasreinigung bei tiefen und hohen Temperaturen nicht (vollständig) funktioniert. Da die Thermofenster dem Kraftfahrbundesamt bekannt waren, liege hier keine Täuschung und daher auch keine Sittenwidrigkeit vor, so der BGH im Januar 2021.

Nun hat der EuGH aber einen neuen Weg zum Schadenersatz eröffnet, bei dem es nicht auf die vorsätzliche sittenwidrige Schädigung ankommt. Im Fall eines Daimler C 220 CDI aus Ravensburg entschied der Gerichtshof, dass die EU-Vorschriften zur Typengenehmigung auch „die Einzelinteressen des individuellen Käufers“ gegenüber dem Hersteller schützen. Dies hatte der BGH bisher anders gesehen: das EU-Recht diene nur dem Umweltschutz und der Verkehrssicherheit, aber nicht den Interessen des konkreten Autokäufers.

Urteil könnte Klagen leichter machen

Mit diesem EuGH-Urteil öffnet sich nun eine ganz neue Welt möglicher Schadenersatzklagen. Ab jetzt genügt schon der Nachweis, dass die Hersteller fahrlässig das EU-Recht verletzt haben. Neue Anspruchsnorm ist nun Paragraf 823 Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB).

Damit werden nun auch Klagen wegen der Thermofenster aussichtsreich. Und da fast alle Dieselhersteller solche temperaturbezogenen Abschalteinrichtungen nutzen, geht es hier um Millionen Fahrzeuge. Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) sprach bereits von „bis zu 10 Millionen Autos in Deutschland“. Spezialisierte Anwaltskanzleien jubeln über das „Sensationsurteil“, das ihnen eine noch unüberschaubar große Zahl an Mandaten bringen dürfte.

Sicher ist allerdings noch gar nichts. Der EuGH hat eine bisher versperrte Tür geöffnet. Die konkrete Anwendung des Grundsatz­urteils auf einzelne Konstellationen und Fahrzeuge bleibt den deutschen Gerichten überlassen. So wird der Bundesgerichtshof bereits am 8. Mai über das weitere Vorgehen beraten, aber vermutlich im konkreten Fall (es geht um einen VW aus Osnabrück) aussetzen oder an die unterinstanzlichen Gerichte zurückverweisen. Denn vieles muss noch geklärt werden.

So muss bei jedem einzelnen Kfz-Typen zunächst festgestellt werden, ob das Thermofenster wirklich illegal war – was aber die Regel sein dürfte. So ist die Abschalteinrichtung nach einem EuGH-Urteil aus dem Juli 2022 nur dann nicht rechtswidrig, wenn sie akute verkehrsgefährdende Motorausfälle verhindern soll. Dass der Verschleiß des Motors reduziert wird, reicht als Grund nicht aus. Und ohnehin sei eine temperaturbezogene Abschalteinrichtung immer illegal, wenn sie dazu führt, dass die Abgasreinigung die meiste Zeit des Jahres nicht funktioniert.

Autobauern drohen hohe Schäden

Auf dieser Grundlage hat das Verwaltungsgericht (VG) Schleswig im Februar in einem Musterverfahren entschieden, dass das Thermofenster in einem VW Golf Plus TDI illegal war. Das Urteil ist allerdings noch nicht rechtskräftig. Wenn das Kraftfahrbundesamt durch die Instanzen geht, kann dies zwei bis drei Jahre dauern. Außerdem gilt das Urteil nur für dieses konkrete Thermofenster. Die DUH hat beim VG Schleswig auch gegen 119 andere Freigabebescheide des Kraftfahrbundesamts geklagt.

Auch die Fahrlässigkeit der Kfz-Hersteller muss nachgewiesen werden. Die Autobauer werden sich vermutlich darauf berufen, dass das Kraftfahrbundesamt informiert war und keine Einwände hatte. Falls die Gerichte dem folgen (was noch völlig offen ist), käme aber auch eine Amtshaftungsklage gegen den Staat infrage, weil das Kraftfahrbundesamt fahrlässig das EU-Recht falsch ausgelegt hat.

Der drohende Schaden ist recht eindeutig. Den Diesel-Eigentümern droht die Stilllegung ihrer Fahrzeuge, sobald die Rechtswidrigkeit der jeweiligen Thermofenster rechtskräftig festgestellt ist. Eine Nachrüstung dürfte in den meisten Fällen nicht möglich oder nicht wirtschaftlich sein.

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