Jüdische Siedler und Palästinenser stehen sich bedrohlich gegenüber

Foto: Nasser Ishtayeh/Zuma Press/imago

Zuspitzung im Nahost-Konflikt:Am Kipppunkt

Es brennt in den besetzten Gebieten. Ein Besuch in der jüdischen Siedlung Yitzhar und dem Dorf Huwara, in dem es gerade heftige Ausschreitungen gab.

Ein Artikel von

4.3.2023, 10:01  Uhr

Rauchwolken hängen am Nachthimmel über dem palästinensischen Dorf Huwara, Dutzende Häuser und Autos stehen in Flammen. So ist es kurz darauf auf Fotos in den sozialen Medien zu sehen. Geschäfte brennen, Steine fliegen in dieser Nacht. Ein Palästinenser wird getötet, Hunderte werden verletzt.

Am vergangenen Sonntag hatte zunächst ein Palästinenser zwei Israelis in Huwara getötet, Siedler aus einer nahe gelegenen Siedlung, die im Auto die Hauptstraße entlangfuhren. Wenige Stunden später dringt eine Gruppe israelischer Sied­le­r*in­nen in das Dorf ein, um Rache zu nehmen. Die Armee greift erst spät in der Nacht ein.

„Ich habe solche Angst um meine Familie“, schreibt per Whatsapp Shadeen Saleem, die wir zwei Wochen zuvor in Huwara getroffen haben: „Meine Brüder und meine Eltern sind in unserem Haus, Siedler greifen sie an.“ Saleem ist während des Angriffs nicht zu Hause, sie studiert im nahe gelegenen Nablus, doch die Stadt ist vom israelischen Militär abgeriegelt. Saleem hat keine Chance, zu ihrer Familie durchzukommen.

Während Huwara brennt, tanzen nicht weit entfernt auf einem Hügel ein Dutzend Siedler*innen, Schulter an Schulter. In dieser Nacht haben sie einen neuen Außenposten besetzt. Der Knessetabgeordnete Zvi Sukkot ist einer von ihnen. „Tänze der Liebe zum Land. Tränen des Schmerzes und der Hoffnung vermischen sich“, schreibt er zu dem Video auf Twitter.

Zwei Wochen zuvor liegen diese Ereignisse noch in der Zukunft – doch im Rückblick kann man sagen, sie standen schon wie Zeichen an der Wand.

„Schade, dass es bewölkt ist“, sagt Zvi Sukkot und blickt Richtung Westen zum Mittelmeer: „Normalerweise kann man bis Netanja sehen.“ Er steht vor seinem Büro auf dem höchsten Punkt der Siedlung Yitzhar, auf der Spitze des Hügels. Von dem weißen Container aus hat er eine Rundumsicht auf das, was er „unser Land“ nennt.

Einige kleine Häuser auf einem Hügel

Die jüdische Siedlung Yitzhar im Westjordanland Foto: Victorine Alisse

Er zeigt auf das Mittelmeer und Tel Aviv, dann dreht er sich im Halbkreis. Seine Hand gleitet über das Westjordanland hinweg, über arabische Dörfer, auch über Huwara. Über weitere jüdische Siedlungen, bis sein Zeigefinger auf der Grenze nach Jordanien ruht. Eine imperiale Geste, könnte man meinen, doch dafür ist sein Blick zu kritisch, seine Bewegung zu vorsichtig. Er gleicht eher einem Wächter, der sich in Abwesenheit des Besitzers um dessen Land sorgt.

Sukkot trägt Schläfenlocken und Tzitziot, weiße Fäden, die religiöse Juden an den Oberteilen befestigen und an den Seiten der Hosen entlangfallen lassen. Auf dem Kopf hat er eine gehäkelte Kippa, Markenzeichen der Siedler.

Steile Karriere in der Politik

Er ist erst 32 Jahre alt und hat eine steile Karriere hingelegt: Zwei Tage nach dem Interview wird er für die rechtsextreme Partei Religiöser Zionismus als Nachrücker in die Knesset einziehen. Ihr Programm sieht unter anderem die Annexion von Land für Siedlungen im Westjordanland, die Ausweisung von Geflüchteten und eine Entmachtung des Obersten Gerichtshofs vor.

In Sitzungszeiten wird er von nun an in der Knesset sein, den Rest der Zeit in seinem Büro in Yitzhar arbeiten – einem Büro, das sich nach internationalem Recht illegal dort auf der Hügelspitze befindet: Es liegt in den besetzten palästinensischen Gebieten.

Im Westjordanland war das vergangene Jahr das blutigste seit dem Ende der Zweiten Intifada. 2022 starben mehr als 150 Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen durch israelische Sicherheitskräfte und Zivilist*innen. Siebzehn Israelis wurden bei Anschlägen von Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen getötet. Im Jahr 2023 sind allein in den ersten zwei Monaten bereits 61 Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen von israelischen Sicherheitskräften getötet worden.

Ein Mann mit Schläfenlocken und Kippa vor einem Haus

Zvi Sukkot ist Siedler in Yitzhar – und seit Kurzem Knessetabgeordneter Foto: Victorine Alisse

Der CIA und israelische Sicherheitsapparate warnen, dass eine dritte Intifada bevorstehen könnte. Noch gibt es keinen Aufruf der großen palästinensischen Fraktionen dazu. Doch viele sorgen sich, dass die neue rechtsextrem-religiöse Regierung Israels den Konflikt zwischen Sied­le­r*in­nen und Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen weiter anheizt.

Zvi Sukkot schließt die Tür zu seinem Containerbüro auf. Seine Zusage zu dem Interview kam prompt – anders als die meisten radikalen Sied­le­r*in­nen ist er bereit, mit den Medien zu sprechen. Die Welt sei gegen die Siedler*innen, sagt er, er will das Image verbessern.

Jüdische Israelis haben unterschiedliche Gründe, in eine Siedlung zu ziehen. Die meisten Sied­le­r*in­nen leben in Pendlerstädten in der Nähe zum Kernland Israel oder in Ostjerusalem. Viele ziehen wegen der günstigen Mieten und der Lebensqualität dorthin. Aber wer nach Yitzhar zieht, macht das, um das Versprechen Gottes einzulösen: Dieses Land wurde den Jü­d*in­nen von Gott versprochen, komplett, inklusive des Westjordanlandes – davon sind die Be­woh­ne­r*in­nen Yitzhars überzeugt. Etwa 2.000 radikale Sied­le­r*in­nen leben hier.

Bezalel Smotrich, Chef der Partei Religiöser Zionismus und neuer Finanzminister, war einmal in seinem Büro, erzählt Sukkot. Beide waren in der Hilltop-Jugend aktiv – hier sammeln sich junge extremistische Siedler*innen, die Gewalt für ein legitimes Mittel halten, und die sogenannte Außenposten im Westjordanland errichten, die auch nach israelischem Recht illegal sind. Die Hilltop-Jugend ist überzeugt davon, dass die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen aus den palästinensischen Gebieten vertrieben werden müssen.

Für Sukkot ist die Hilltop-Jugend eine Gruppe junger Menschen, die sich zum Ziel gesetzt haben, Gottes Versprechen einzulösen: die Besiedlung von Eretz Israel, dem gelobten Land. Dazu gibt es Lagerfeuer auf den Hügeln des Westjordanlandes, Zusammengehörigkeitsgefühl und Pioniergeist.

Bis vor Kurzem waren die extremistischen Sied­le­r*in­nen die Outlaws der israelischen Gesellschaft, die Troublemaker unter den 500.000 Siedler*innen, die mittlerweile im besetzten Westjordanland leben. Nun lenken sie die Geschicke des Landes mit.

Judäa und Samaria
Eine junge Frau mit schwarzem Kopftuch und schwarzem Mantel

Shaden Saleem kommt aus Huwara und studiert im nahen Nablus Foto: Victorine Alisse

Benjamin Netanjahu hat die radikalen Siedlerparteien hoffähig gemacht und ihnen in den Koalitionsvereinbarungen weitreichende Zugeständnisse eingeräumt. Er, der derzeit in drei Korruptionsfällen vor Gericht steht, will vor allem eins: nicht ins Gefängnis. Immunität versprechen ihm seine Bündnispartner. Und die wissen, wie erpressbar Netanjahu ist. Zum ersten Mal in der Geschichte Israels steht das „exklusive und unbestreitbare Recht auf alle Teile des Landes“ in der Koalitionsvereinbarung, auch auf „Judäa und Samaria“ – die biblischen Namen für das besetzte Westjordanland.

Aus einem Haufen grüner T-Shirts, die in einer Ecke seines Büros liegen, zieht Sukkot eines hervor. „Mein Herz brennt für Josef“, steht darauf. Zurückkehren zu können an das Grab des jüdischen Stammvaters Josef – auch das ist eines der Ziele von Sukkot. Derzeit dürfen jüdische Israelis nur mit Spezialgenehmigung dorthin, an den Stadtrand von Nablus: Für Israelis gilt die palästinensische Stadt als Terrornest, für Palästinenser als eine Zentrale des Widerstands. „Manchmal lassen sie uns dorthin“, sagt Sukkot. Dann werden sie vom Militär eskortiert, es kommt dabei regelmäßig zu heftigen Zusammenstößen.

„Es kann doch nicht sein, dass wir uns nicht überall in unserem Land bewegen dürfen“, sagt Sukkot. Der Ort ist für ihn nicht nur in religiöser und politischer Hinsicht wichtig, auch privat. Im Oktober 2000, kurz nach dem Beginn der Zweiten Intifada, wurde der Vater seiner heutigen Frau am Josefsgrab von Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen getötet. Man fand ihn erschossen am Stadtrand von Nablus. Sukkots Frau war damals acht Jahre alt. Im Wohnzimmer über einem Bücherregal hängt ein Bild von ihrem Vater. Ein Mann mit spitzem Bart und Nickelbrille liest in der Bibel. Er war Rabbiner und 36 Jahre alt, als er starb. Mehr erzählt Sukkot dazu nicht.

Bis Juden im ganzen biblischen Israel ohne Einschrän­kungen leben können, werde er kämpfen, sagt Zvi Sukkot. Seine Partei ist nun Teil der israelischen Regierung

Fragen nach Gefühlen scheinen ihm nicht zu behagen. Überhaupt private Fragen. „Mh?“, antwortet er, scheinbar abgelenkt, und kaut seinen Kaugummi fester. Über seine Eltern ist wenig aus ihm herauszukriegen: Er ist in einem ultraorthodoxen Elternhaus aufgewachsen. Damit ist das Thema erledigt.

Politische Fragen beantwortet er geduldig, mehr oder weniger freundlich. „Als Knessetabgeordneter will ich dafür sorgen, dass alle Terroristen entweder im Knast oder tot sind“, sagt Sukkot. Die Palästinensische Autonomiebehörde ist für ihn eine Terrororganisation. In anliegende palästinensische Städte und Dörfer fahre er nicht. „Die wollen uns umbringen.“

Zvi Sukkot sorgt sich um seine fünf Töchter. Seine Waffe liegt auf dem Nachttisch in seinem Schlafzimmer. Wenn er die Siedlung verlässt, trägt er sie am Gürtel. Doch die besetzten Gebiete zu verlassen und seine Kinder in einer weniger konfliktgeladenen Gegend aufzuziehen, kommt für ihn nicht infrage.

Für ihn wäre das Verrat, und Verrat – oder das, was er dafür hält – hat ihn nach Yitzhar gebracht. Sukkot war 15, als die israelische Armee nach dem Abkoppelungsplan des damaligen Ministerpräsidenten Ariel Scharon die Sied­le­r*in­nen aus den Siedlungen im Gazastreifen evakuierte. Sukkot konnte nicht fassen, was er im Fernsehen sah: Soldaten, die ihre Landsleute aus ihren Häusern trugen und in Tränen ausbrachen. Bulldozer, die Häuser zerstörten, Männer, die ihre Haare rauften und zum Himmel beteten, Frauen, die mit ihren Babys im Arm von Soldaten aus den Häusern eskortiert wurden – für sie viel mehr als eine Bleibe. Der Inbegriff dessen, woran sie glaubten und wofür sie kämpften: Gott zu gehorchen, sein Erbe anzunehmen.

„Sie haben unser Land einfach der Hamas überlassen“, sagt Sukkot. Noch heute spürt man die Wut darüber in ihm. Nach diesem Ereignis beschloss er, seinen Weg zu ändern: Aus dem ultraorthodoxen Studenten wurde ein nationalreligiöser Zionist. Er schloss sich der Hilltop-Jugend an und zog nach Yitzhar.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Preisschild-Aktionen
Ausgebrannte Autos auf einem Parkplatz

Ausgebrannte Autos in Huwara am Tag nach den Ausschreitungen Foto: Ammar Awad/reuters

In den palästinensischen Dörfern um Yitzhar herum fürchten Bauern um ihre Olivenhaine und Gläubige um ihre Moscheen. Yitzhar ist bekannt für sogenannte Preisschildaktionen. Preisschild, weil die Siedler diese Aktionen als Vergeltung für palästinensische Gewalt betrachten.

Zvi Sukkot stand schon vor Gericht, wegen des Verdachts, an einer solchen Aktion beteiligt gewesen zu sein. Ihm wurde vorgeworfen, als 20-Jähriger im Dezember 2009 gemeinsam mit anderen Hilltop-Jugendlichen eine Moschee in einem palästinensischen Dorf angezündet zu haben. Aus Mangel an Beweisen wurde er jedoch freigelassen. Wegen Aktionen gegen israelische Sicherheitskräfte und Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen blieb Sukkot aber im Visier des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Bet.

An seiner Ideologie hat sich in den vergangenen Jahren wenig geändert. Möglicherweise aber an der Form. Er gibt sich versöhnlicher. Wenn vor der Knesset Zehntausende gegen die Justizreform protestieren, mit der unter anderem der Oberste Gerichtshof entmachtet werden soll, spricht er mit ihnen, twittert, dass er ihre Sorgen ernst nehme, diese aber unberechtigt seien.

„Selbstjustiz darf nicht sein“, sagt er, wenn man ihn fragt, was er von Siedlergewalt gegen Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen halte. Aber der Vergleich sei schief. Auf der einen Seite stünden die Palästinenser*innen, die den Staat Israel zerstören wollten. Auf der anderen Seite nur eine Handvoll Leute.

Bis Jü­d*in­nen ohne Einschränkung im ganzen biblischen Israel leben können, werde er kämpfen. Er blickt über die steinige Hügellandschaft. Ob die Regierung das umsetzen wird, was er als seinen Traum bezeichnet? „Es gibt viele, die uns Steine in den Weg legen“, sagt Sukkot. „Aber Schritt für Schritt werden wir dahin kommen.“ Dann lächelt er und verabschiedet sich. Bald beginnt der Schabbat.

Ein paar Hundert Meter unterhalb von Yitzhar liegt das palästinensische Huwara. Shaden Saleem steht dort am Rand eines kleinen Vergnügungsparks. Das Riesenrad steht still. Bewegungslos hängen die Gondeln in der Luft. Auch das Karussell dreht sich nicht. Vor sechs Monaten habe der Besitzer alles geschlossen, erzählt Saleem. Die Siedler hätten das Gelände immer wieder angegriffen, Steine auf die Gondeln geworfen. Bis keine Gäste mehr kamen.

Immer wieder blickt Saleem den Hügel hinauf, über den steinigen Boden mit seinen Olivenbäumen und schmalen Zypressen hinweg in Richtung Yitzhar.

Wenige Meter entfernt, auf der anderen Straßenseite, hängen verkohlte Dachbalken über einer Terrasse. Das Café dort ist abgebrannt. An einem Morgen im Oktober 2022 hatten Siedler es angezündet. Verletzt wurde niemand. „Es kamen schon lange keine Gäste mehr in das Café“, sagt Shaden Saleem, „aus Angst vor den Siedlern“.

Saleem studiert Englische Literatur und Übersetzung an der Universität in Nablus, nur wenige Autominuten von Huwara entfernt. Sie hat Angst, zu lange an dem Café zu verweilen. „Sie kommen, wenn sie uns hier sehen“, ruft sie. „Wir müssen weiter.“ Sie steigt von einer kleinen Mauer, streicht über ihr Kopftuch und zieht den Wintermantel enger. Dann winkt sie uns Richtung Auto. Ein Stacheldrahtzaun zieht sich an der Straße entlang ins Zentrum des Dorfs. Vor Kurzem habe ihn jemand zum Schutz vor Angriffen hier angebracht. Ob er helfe? Saleem schüttelt den Kopf. „Sie kommen trotzdem.“

Fast alle Häuser, die an der Straße am Stacheldrahtzaun entlang stehen, sind von Siedlergewalt betroffen. Ein zweistöckiges Familienhaus hat keine Fensterscheiben in der oberen Etage. „Der Besitzer hat aufgegeben“, sagt Saleem. Immer wieder seien die Scheiben eingeworfen worden.

Auch Saleem selbst wurde schon angegriffen. Im Oktober ging sie mit ihrer Schwester die Hauptstraße entlang, erzählt sie, als ihr Siedler vom Auto aus Pfefferspray ins Gesicht sprühten. Sie wurde im Krankenhaus behandelt. Seitdem hat sie Angst, allein das Haus zu verlassen. Wenn sie einen Siedler sieht, schreckt sie zusammen. Aber sie versuche, ihre Angst zu überwinden, sagt sie.

Huwara ist seit Langem ein Brennpunkt der Gewalt im Westjordanland. Es ist einer der wenigen palästinensischen Orte, durch die Israelis regelmäßig fahren, um Siedlungen im nördlichen Westjordanland zu erreichen.

Saleem ist zwanzig Jahre alt und zierlich. Sie liebt es, mit ausländischen Gästen zu sprechen. Sie kann dann ihr Englisch trainieren und gleichzeitig über „die Sache der Palästinenser“ reden.

Nur wenn die Sprache auf Israel kommt, wird sie einsilbig. Israelis, die keine Sied­le­r*in­nen oder Sol­da­t*in­nen sind, kennt sie durch die Trennungspolitik nicht. Keine Gleichaltrigen, die nur wenige Kilometer von ihr entfernt leben und vielleicht den gleichen Traum haben wie sie: Übersetzerin und Hochschuldozentin zu werden.

Bei einem Haus etwas außerhalb von Huwara steigen wir aus dem Auto. „Wann auch immer die Siedler kommen – sie gehen niemals, ohne dieses Haus anzugreifen.“ Die obere Etage ist nicht fertig gebaut, aus den Außenwänden ragen Eisenstangen. „Salaam“, ruft ein Junge, der sich als Ibrahim vorstellt. Er ist 13 Jahre alt. Ibrahim führt uns Richtung Olivenhain: „Von hier kommen sie.“ Dann läuft er zurück und öffnet die Haustür, seine Mutter und zwei Brüder, der 23-jährige Abdallah und der 19-jährige Ahmed, sitzen im Wohnzimmer. Ihr Nachname soll nicht genannt werden.

Ihr Vater besitzt eine Autowerkstatt, Ahmed und Abdallah arbeiten dort. Oft geht es in ihren Erzählungen darum, dass sie die Autos davor bewahren wollen, beschädigt zu werden. Manchmal kämen die Siedler, kurz nachdem es einen Anschlag auf Israelis gegeben hat, oft sei es aber willkürlich, erzählen sie.

Ob die Angriffe schlimmer geworden sind seit Antritt der neuen Regierung? Die Mutter wirft die Arme in die Luft, die Brüder nicken heftig. Vor einer Woche seien sie wieder dagewesen, erzählen sie. Männer mit schwarzen Masken warfen Steine auf das Haus. Abdullah und Ahmed liefen auf das Dach und warfen Steine zurück. Kurz darauf begannen die Siedler zu schießen.

Abdullah und Ahmed haben keine Waffe. „Wir dürfen keine besitzen“, sagt Abdullah. Im Westjordanland gibt es zwei Rechtssysteme. Eines gilt für die Siedler*innen. Für die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen aber gilt das Militärrecht. Demzufolge ist das Tragen einer Waffe ein krimineller Akt. Das heißt nicht, dass es keine Waffen hier gibt. Einige auf dem Schwarzmarkt kommen aus Nachbarländern, andere sind aus dem Arsenal der israelischen Armee gestohlen. Dem israelischen Sicherheitsapparat bereiten die Waffen Sorgen. Viele Anschläge der letzten Monate haben Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen mit Schusswaffen verübt.

In der Regel interessieren sich die meisten Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen nur wenig für israelische Innenpolitik. Doch Itamar Ben Gvir, der neue rechtsextreme Minister für Nationale Sicherheit, hat es geschafft, sie in Alarmstimmung zu versetzen. Auch Ahmed und Abdullah sind gut über seine Pläne informiert. Zum Beispiel darüber, dass Ben Gvir es für Sol­da­t*in­nen erleichtern will, das Feuer zu eröffnen. Oder dass er für Israelis das Genehmigungsverfahren für Waffenscheine beschleunigt hat. Seitdem ist die Zahl der neu ausgestellten Waffenscheine um das Fünffache angestiegen.

Ahmed und Abdullah wollen nicht zur Waffe greifen. Sie hängen an ihrem Leben. Aber bei dem Namen „Die Höhle des Löwen“ hellen sich ihre Gesichter auf. Im August 2022 wurde die militante Gruppe in Nablus gegründet. Unter Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen hat sie mit ihren Anschlägen auf israelisches Militär und Sied­le­r*in­nen im Westjordanland schnell an Beliebtheit gewonnen. Es sind vor allem junge Männer um die 20.

„Sie verteidigen unser Land“, sagt Abdullah. Indirekt dürften auch viele der Anschläge auf Zi­vi­lis­t*in­nen innerhalb Israels auf das Konto der „Höhle des Löwen“ gehen. Über die sozialen Medien dürften sie manche dazu motiviert haben.

Als zwei Wochen nach dem Besuch ein Palästinenser in Huwara zwei Israelis erschießt, soll er ein T-Shirt mit den Insignien der Gruppe getragen haben. Wenige Stunden später setzen Sied­le­r*in­nen den Ort in Brand. Viele sprechen von einem Pogrom. Am Mittwoch fordert der israelische Finanzminister Bezalel Smotrich, Huwara müsse „ausradiert werden“. Der Staat Israel müsse das aber tun, nicht Privatleute.

Am Freitag hindert das israelische Militär dann linke israelische Ak­ti­vis­t*in­nen daran, eine Solidaritätskundgebung in Huwara abzuhalten. Soldaten sollen den Ak­ti­vis­t*in­nen den Weg blockiert haben.

Bei unserem Besuch liegt diese Eskalation noch in der Zukunft. Ibrahim bringt zum Abschied Schokoriegel für alle. Haben sie jemals daran gedacht, hier wegzuziehen? „Wohin?“, sagt die Mutter. Dann lächelt sie und begleitet uns zur Tür.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.