Nach offenem Brief an „New York Times“: Nicht ohne Haltung

Es wird wieder leidenschaftlich über Journalismus und Aktivismus diskutiert. Aber wer legt fest, was objektiv und was ideologisch ist?

Ein Journalist mit gelber Warnweste, auf der "Presse" steht, beobachtet einen Bagger, der in Lützerath ein Haus einreißt

Die Räumung in Lützerath im Januar 2023 wird von der Presse beobachtet Foto: Jochen Tack/imago

Dürfen Jour­na­lis­t*in­nen wählen gehen oder FC-Bayern-Fan sein? Ja, klar, würden die meisten antworten. Können sie vor dem Bundestag gegen die AfD demonstrieren oder bei Fridays for Future aktiv sein? Diese Frage würden deutlich weniger bejahen. Denn das Gebot des Journalismus ist Neutralität, auch wenn es keine Einigkeit darüber gibt, was damit gemeint ist. Denn es scheinen nicht für alle dieselben Regeln zu gelten.

Aktuell wird mal wieder über die Frage diskutiert, wie viel Aktivismus der Journalismus verträgt. Auslöser ist ein offener Brief, den Mitte Februar tausend Mit­ar­bei­te­r*in­nen der New York Times an die Zeitung adressiert haben. Sie kritisieren die tendenziöse Bericht­erstat­tung über trans und nichtbinäre Menschen. Obwohl ein Großteil der Texte fair sei, würden sie sich „ernste Sorgen über redaktionelle Voreingenommenheit“ machen. Die Un­ter­zeich­ne­r*in­nen sehen eine transfeindliche Agenda, eine Mischung aus „Pseudowissenschaft und euphemistischer Sprache“.

Ihre Vorwürfe gegen die renommierte US-Tageszeitung untermauern sie mit Beispielen. In einem Text, wird ein trans Kind „Patient Null“ genannt, eine Bezeichnung, die man bei tödlich ansteckenden Krankheiten nutzt. Die NGO Glaad veröffentlichte zur selben Zeit einen Brief, in dem sie die NYT aufforderte, keine Anti-Trans-Texte mehr zu veröffentlichen. Ein Sprecher der NYT wies die Vorwürfe von sich, die Berichterstattung sei „nuanciert und fair“.

In den USA befeuerten beide Briefe eine generelle Debatte über Objektivität und Aktivismus im Journalismus. Etwas später ist diese auch in Deutschland angekommen. Der US-Politikwissenschaftler Yascha Mounk schreibt in der Zeit, dass es nicht nur um den journalistischen Umgang mit trans Menschen gehe, sondern um „die Rolle und die Zukunft des Journalismus“. Denn früher hätten Jour­na­lis­t*in­nen „die Welt dargestellt, wie sie eben ist“, heute seien sie „Verteidiger der Demokratie und Minderheitenrechte“.

Der Aktivismusvorwurf als Beleidigung

Ähnlich sieht das René Pfister im Spiegel, der einen neuen Journalismus ausmacht, der sich von der Objektivität verabschiedet habe. Das ist für ihn nicht nur „die Blüte des woken Amerika“, auch in Deutschland sieht er den objektiven Journalismus in Gefahr.

Als Beispiel führt er den Stern an, der eine Ausgabe in Zusammenarbeit mit Fridays for Future veröffentlicht hat, sowie die taz, die einen Vertrag von ProQuote unterschrieben hat, dass bei gleicher Qualifikation bevorzugt Frauen in Führungspositionen eingestellt werden sollen. Ein letztes Beispiel ist Sara Schurmann, die zur Wissenschaftsjournalistin des Jahres gewählt wurde, und das obwohl (wie Pfister sagen würde) sie gefordert hat, dass alle Jour­na­lis­t*in­nen das 1,5-Grad-Ziel einfordern sollten.

Der Aktivismusvorwurf ist für viele Journa­lis­t*in­nen eine Beleidigung. Denn wer aktivistisch ist, mache seinen Job nicht richtig. Einen ähnlich schlechten Ruf hat der „Haltungsjournalismus“.

Themen und Gespräche haben eigens formulierte Relevanz

Dabei machen alle Jour­na­lis­t*in­nen Haltungsjournalismus: Geprägt durch ihre Identität und Erfahrung suchen sie nach eigens formulierten Relevanzkritieren für Themen und Ge­sprächs­part­ne­r*in­nen, setzen Schwerpunkte und lassen Aspekte, die ihnen irrelevant erscheinen, weg. Wenn ich als Redakteurin gezielt darauf achte, weibliche Personen zu Wort kommen zu lassen, gilt das als aktivistisch. Wenn ein Redakteur in seiner Arbeit nur mit Männern spricht, gilt das als normal.

Denn Aktivist*innen, so scheint es, sind immer nur die anderen. Kein Wunder also, dass vor allem migrantischen, jungen oder linken Jour­na­lis­t*in­nen dieser Vorwurf gemacht wird. Ihre Herkunft, ihr Alter oder ihre politische Ausrichtung stellt sie automatisch unter Aktivismusverdacht, als hätten andere Jour­na­lis­t*in­nen keine Herkunft, kein Alter oder keine politische Ausrichtung.

Es ist kein Zufall, dass bei Pfisters Beispielen Kli­ma­jour­na­lis­t*in­nen auftauchen, aber eine Person wie Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt fehlt. Dieser hat sich durch seine Texte und Tweets immer wieder als Verbrennungsmotoraktivist hervorgetan. Doch in der Debatte geht es um die Frage: Wie viel Klimaaktivismus verträgt der Journalismus? Und nicht um die Frage: Wie viel Anti-Klimaschutz-Aktivismus verträgt der Journalismus?

Angst vor Verlust von Diskurshoheit

Es lohnt sich zu diskutieren, wo Journalismus aufhört und Aktivismus anfängt. Doch Pfister, Mounk und Co wollen keine Grenzen ausloten. Vielmehr wird durch ihre Texte eine Angst vor Verlust von Diskurshoheit sichtbar. Guter Journalismus „erkundet komplexe Sachverhalte ohne ideologische Vorbehalte“, schreibt Mounk. Doch was sind „ideologische Vorbehalte“?

Für viele gilt der Einsatz für die Pressefreiheit als Selbstverständlichkeit und nicht als Aktivismus. Wenn ich mich allerdings dafür stark mache, dass Menschenrechte auch für trans Menschen gelten – dann bin ich Aktivistin? Wer hat denn festgelegt, was ein objektiver und was ein ideologischer Zugang ist?

Aktivismus verfolgt politische Ziele, Journalismus will Informationen zugänglich machen. Das muss kein Widerspruch sein, kann sogar Hand in Hand gehen. Der Unterschied ist: Jour­na­lis­t*in­nen verpflichten sich einem Handwerk und dem Pressekodex. Klar ist aber auch: Wir alle gehen mit Haltungen und Erfahrungen an Themen heran. Das lässt sich nie verhindern. Wer das aber anerkennt und transparent macht, der hat viel gewonnen. Mehr als der vermeintlich objektive Journalismus, der nur bestehende Verhältnisse fortschreibt.

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