Widerstand gegen Krankenhausreform: Verteilungs­kampf bei Geburtshilfe

Ein Chefarzt in Niedersachsen wehrt sich gegen die geplante Krankenhausreform. Er fürchtet, dass dann noch weniger Menschen Geburten begleiten wollen.

Ein Kinderwagen mit einer Babypuppe steht auf dem Dach einer Bushaltestelle

Auch mit der geplanten Reform dürfte sich die Geburtshilfe in Deutschland nicht verbessern Foto: imago

VAREL taz | Immer wieder fällt der Begriff „24/7“ im Telefonat mit Christoph Reiche, Chefarzt der Frauenklinik in Varel, einem 24.000- Einwohner:innen-Ort, 70 Kilometer nordwestlich von Bremen gelegen. „Wer ist denn noch bereit, 24/7 Geburtshilfe zu betreiben?“, fragt er. Also tags, nachts, das ganze Jahr. Nicht mehr viele, das ist bekannt. Im ganzen Land suchen Kliniken händeringend Hebammen und ärztliche Geburtshelfer:innen. In der Geburtshilfe pressiert der Fachkräftemangel besonders, weil eine Geburt nicht planbar ist, sich nicht wie eine Operation verschieben lässt.

Deshalb können Personalengpässe gesundheitsgefährdend sein. Etwa weil ein Kaiserschnitt gemacht wird, weil niemand da ist, der eine kompliziertere vaginale Geburt begleiten kann. Oder weil sich die Gebärende in der Hektik nicht mehr als selbstbestimmt und Eingriffe als gewalttätig erlebt, was zu psychischen Belastungsstörungen führen kann.

Im schlimmsten Fall sterben Kinder oder Mütter, weil eine Notsituation nicht recht­zeitig erkannt wurde, oder sie überleben die Geburt knapp, leiden aber lebenslang an Behinderungen.

Lösen soll das Problem jetzt die Krankenhausreform, über deren Umsetzung Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach am Donnerstag erneut in einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe berät. Diese hat unter anderem das Ziel, Ressourcen und Fachkräfte besser zu verteilen, eine Überversorgung abzubauen. Und dies systematisch, was für die Geburtshilfe etwas Neues wäre.

Denn diese gehört neben den Pädiatrien zu den Abteilungen, die Kliniken in den vergangenen Jahren reihenweise abgestoßen haben. Weil man erst ab etwa 1.000 Geburten damit Geld verdienen kann oder weil Personal fehlte – oder beides. Denn wer will schon auf einer aus Kostengründen dauerhaft unterbesetzten Station arbeiten. So gab es laut Statistischem Bundesamt 1991 noch 1.186 Kliniken mit Geburtshilfe, im Jahr 2021 waren es 611 – die Geburtenzahlen sind bis dahin gestiegen.

Keine Rücksicht aufs Personal

Diese Schließungen geschahen in der Vergangenheit oft von einem Tag auf den nächsten. Die Schwangeren mussten sich andere Kliniken suchen, meistens weiter von ihrem Wohnort entfernt, die Kliniken mehr Gebärende betreuen – ohne mehr Personal zu haben, weil das nicht einfach den Schwangeren hinterherläuft, wie der Deutsche Hebammenverband in einer Stellungnahme zur Reform schreibt. Und: „Die ohnehin bestehende Überlastung führt zu einem schlechten Betreuungsschlüssel und dies zu einer hohen Abwanderung der Hebammen aus dem Beruf.“

Genau das, befürchtet der Vareler Chefarzt Christoph Reiche, werde jetzt wieder geschehen, wenn die Pläne der Regierungskommission, die derzeit Vorschläge zur Krankenhausreform erarbeitet, umgesetzt würden. Denn danach dürften nur noch Krankenhäuser eine Geburtshilfe anbieten, die im neuen dreistufigen System mindestens der Stufe 2 zugeordnet würden. Diese beinhaltet unter anderem, dass Notfall- und OP-Teams im Haus sind.

227 Geburtskliniken würden dann noch übrig bleiben, hat ein Gutachten im Auftrag der Deutschen Krankenhausgesellschaft ergeben. Das Personal wird dabei gedacht, als ließe es sich wie Krankenhausbetten verschieben.

Ende der kleinen Geburtskliniken

Das bedeutet auch: Es würde in Zukunft nur noch große und sehr große Geburtskliniken geben. Die durchschnittliche Geburtenzahl hätte nach dieser Rechnung im Jahr 2021 bei 3.500 pro Krankenhaus gelegen. Nach einem Gutachten im Auftrag des Gesundheitsministeriums gab es 2018 nur 40 Kliniken mit mehr als 2.500 Geburten. Den größten Anteil hatten Kliniken mit 500 bis 1.000 Geburten.

In Varel waren es im vergangenen Jahr 809. „Ich würde nicht an ein größeres Haus wechseln“, sagt Chefarzt Reiche, seine Hebammen und Ärz­t:in­nen mehrheitlich auch nicht. Sie arbeiteten gerne in einem überschaubaren Team, seine Abteilung hat einen guten Ruf unter Eltern und Geburtshelfer:innen. Probleme, Personal zu finden, habe er nicht, sagt Reiche.

Er ist nicht der Einzige, der Alarm schlägt angesichts der Pläne und ihrer Konsequenzen für die geburtshilfliche Versorgung. Landauf, landab warnen Kom­mu­nal­po­li­ti­ke­r:in­nen und Krankenhausbetreiber vor unterversorgten Landstrichen. Dies hat auch die Kommission vernommen.

Eines ihrer Mitglieder, der Lungenfacharzt Christian Karagiannidis, hatte dem Ärzteblatt vor zwei Wochen gesagt, er könne sich vorstellen, dass die Geburtshilfe doch auch von Krankenhäusern der Basisversorgung in der niedrigsten Stufe I angeboten werden darf, wie es der Hebammenverband fordert.

Kampf um Ressourcen und Personal

„Das Ziel muss bleiben, das vorhandene Personal auf weniger Standorte zu verteilen“, bestätigte Karagiannidis jetzt der taz, „aber das darf nicht dazu führen, dass es in strukturschwachen Regionen gar keine Kreißsäle mehr gibt.“ Allerdings hat er darüber nicht alleine zu entscheiden, und in der Kommission sitzt zwar ein Kinderarzt – aber keine Geburtshelferin. „Aus Sicht der Kinderärzte gehört zur Geburtshilfe eine Kinderklinik.“

Das Sankt Johannis Hospital in Varel hat eine solche nicht – wie fast alle Kliniken, die nach den derzeitigen Plänen ihre Geburtshilfe schließen müssten –, auch wenn manche diese trotz mangelnder Wirtschaftlichkeit aus Imagegründen und im Sinne der Kundenbindung bisher behalten hatten.

Der Chefarzt Reiche hat zudem Sorge, dass seine eigene Fachgesellschaft, die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, sich im Verteilungskampf um Ressourcen und Personal für die Pläne einsetzen wird. Denn deren Vorstandsmitglieder – in der Regel an großen Kliniken angestellt – haben in der Vergangenheit immer wieder die Qualität kleiner Geburtshilfestationen infrage gestellt. Ein Schlag ins Gesicht für engagierte Ärz­t:in­nen wie Reiche.

„Nein“, sagt dazu Markus Schmidt von der Arbeitsgemeinschaft Geburtshilfe in der Fachgesellschaft, „wir wollen nicht, dass es nur noch Perinatalzentren der Level I und II gibt.“ Das sind Kliniken, die unter anderem extreme Frühgeburten betreuen. Daneben gibt es noch das Level III, die perinatalen Schwerpunkte – mit Kinderärzt:innen, aber ohne Intensivstation – sowie das Level IV, Kliniken für Geburten ohne vorher erkennbare Risiken wie in Varel.

Große Kliniken weisen teils Schwangere ab

Zudem, so Schmidt, ließe sich pauschal nicht sagen, dass kleinere Kliniken schlechter arbeiteten als große, es könne auch anders herum sein. Die Zentralisierung hält er aber aufgrund des Personalmangels für richtig – aber nur, wenn die Regionen selbst planen können. „Wenn hier bei uns im Ruhrgebiet Kreißsäle schließen, ist das etwas anderes als in sehr ländlichen Gegenden.“

Maximal 40 Minuten soll die Fahrt zur Geburtsklinik betragen, so sieht es eine Vereinbarung zwischen der Deutschen Krankenhausgesellschaft und den Versicherungen vor. Weil sich in Einzelfällen Geburten unvorhersehbar zu Notfällen entwickeln können, brauche es aber Ärz­t:in­nen im Bereitschaftsdienst in der Klinik, die innerhalb von 20 Minuten ein Kind per Kaiserschnitt holen könnten, sagt Schmidt. Und zudem Kooperationen mit Perinatalzentren, um Neugeborene schnell verlegen zu können.

In diesem Punkt wäre Schmidt sich mit Christoph Reiche aus Varel einig. Denn auch der will Risiken minimieren und nimmt nur Schwangere an, die nach den medizinischen Leitlinien in einer Level-IV-Klinik gebären dürfen. Also ohne Vorerkrankung und erst ab Beginn der 37. Woche.

So verfahren nicht alle Kliniken. Zum einen, weil das zu Konflikten mit Kom­mu­nal­po­li­ti­ke­r:in­nen und Betroffenen führt, wie Reiche es erlebt. Zum anderen, weil Erlöse wegfallen. Nicht selten hingegen nehmen kleinere Kliniken aber Risikogeburten an, weil sich die größeren Kliniken wegen Personalmangel weigern – obwohl sie für diese Fälle den Versorgungsauftrag haben. Darauf hat auch der Deutsche Hebammenverband in seiner Stellungnahme hingewiesen.

Auch Reiche und seine Kol­le­g:in­nen telefonieren regelmäßig in einem Umkreis von 100 Kilometern herum, um einen Platz für eine Frau in den Wehen zu finden oder für ein Kind, das neonatologisch versorgt werden muss. Manchmal erfolglos. Bis zu einem Netzwerk aller Kliniken, wie es auch Markus Schmidt von der Fachgesellschaft vorschwebt, ist es noch ein weiter Weg.

Reiche trifft sich am Donnerstag erst einmal mit Ver­tre­te­r:in­nen der anderen drei im Nordwesten übrig gebliebenen Geburtskliniken ohne Kinderstation und im April mit allen weiteren aus Niedersachsen. „Es geht darum, die Menschen mitzunehmen, die Lust auf Geburten haben, und sie nicht auch noch zu verlieren.“

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