Unter dem Deckmantel Soziale Arbeit: Ideologie macht Schule

Soziale Arbeit? Gruppen wie die „Aktion Lebensrecht für Alle“ verbreiten antifeministische und christlich-fundamentalistische Inhalte unter Teenagern.

Frauen mit Holzkreuzen - Abtreibungsgegnerinnen

Gehen gegen die rechtliche Selbstbestimmung von Schwangeren auf die Straße: Marsch für das Leben-Demonstrierende in Berlin Foto: M.Czapski/Snapshot

LEIPZIG taz | Alexandra Linder zeigt ein Bild eines Zellhaufens in die Kamera. Acht Kreise, aneinandergeklebt in einer kleinen, mit Flüssigkeit gefüllten Kugel. Me­di­zi­ne­r*in­nen sagen dazu Blastozyste, Alexandra Linder sagt: „Das hier ist ein vollständiger Mensch.“ Linder ist ehemalige Bundesvorsitzende des Vereins Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA) und eine bekannte Pro-Life-Aktivistin in Deutschland. An diesem Tag hält sie für den Jugendverband Jugend für das Leben (JfdL) einen Onlinevortrag.

Ihre Botschaft an die 14 vor allem jungen Zuhörenden: Abtreibung, das sei eine „vorgeburtliche Kindstötung“. Linder spricht von Entmenschlichung, von Gewalt, von Brutalität. Wo die Medizin sagt, dass der Fötus bis zur 19. Schwangerschaftswoche noch keine Schmerzen empfinden kann, formuliert Linder: „Das Kind wird entmenschlicht und zerquetscht.“

Die Inhalte sind wissenschaftlich falsch

Hinter Linder und ALfA steckt ein bundesweites christlich-fundamentalistisches Netzwerk. Das Ziel ist es, Jugendliche für ihre Ideologie zu gewinnen. Mit Infoveranstaltungen wie dieser, dem Verteilen von Goodie-Bags, „Pro-Life“-Touren durch Deutschland, Argumentationsworkshops oder Mitmachaktionen sprechen sie vor allem Jugendliche an, die Orientierung suchen.

Die Inhalte, die die selbst ernannten Le­bens­schüt­ze­r:in­nen verbreiten, sind zwar oft wissenschaftlich falsch, werden von der Gruppe jedoch als neutrale Informationen verkauft. So beruft sich Linder in ihrem Vortrag an keiner Stelle auf Gott oder die Schöpfung. Für junge Menschen, die die ideologischen Hintergründe nicht kennen, ist der fundamentalistische Grundtenor ihres Vortrags schwer zu erkennen.

Warum beschäftigen wir uns in einem Dossier mit Antifeminismus? Schon in vielen Liedern wird besungen: „Know your enemy“. Oft ist Antifeminismus subtil. Wie wir ihn entlarven können, wird klar, wenn wir uns mit ihm auseinandersetzen: Welche Formen nimmt er an? Wer sind die Akteur*innen? Und wie können wir ihm begegnen? Alle Dossiertexte gibt es im Online-Schwerpunkt zum feministischen Kampftag.

„Diese Aktionen sind bewusst erlebnisorientiert“, sagt Len Schmid. Schmid ist So­zi­al­ar­bei­te­r*in und Se­xu­al­wis­sen­schaft­le­r*in und beschäftigt sich als Pro­jekt­re­fe­ren­t*in der Fachstelle „mobirex – Monitoring, Bildung, Information“ in Baden-Württemberg schwerpunktmäßig mit organisiertem Antifeminismus und den Schnittstellen zur (extremen) Rechten.

Soziale Arbeit bei Jugendlichen durch antifeministische Akteure ist eines der Kernthemen Schmids. Der Fokus liege hier auf der Anti-Choice-Arbeit und der Informationsverbreitung gegen reproduktive und sexuelle Selbstbestimmung. Bei der christlich-fundamentalistischen Sozialarbeit identifiziert Schmid drei Säulen: Beratungsstellen, Jugendarbeit und Sexualerziehung.

Mitmachaktionen und fundamentalistische Literatur

Die Beratungsstellen konzentrieren sich vor allem auf das Thema Schwangerschaftskonfliktberatung. Dabei geht es aber nicht etwa um eine psychologische Beratung, wie sie Pro Familia beispielsweise leistet, sondern vielmehr darum, den Aufsuchenden zu vermitteln, dass Schwangerschaftsabbruch nicht nur ethisch falsch, sondern auch traumatisierend für alle Beteiligten sei. Das vermeintliche Post-Abortion-Syndrom, wie es die Ab­trei­bungs­geg­ne­r*in­nen nennen, ist jedoch medizinisch nicht nachweisbar.

Bei der zweiten Säule, der Jugendarbeit, gibt es vor allem Mitmachaktionen wie die Pro-Life-Tour. Die dritte Säule, die Sexualerziehung, geht mit den anderen beiden Hand in Hand. Anti-Choice-Ak­ti­vis­t*in­nen sprechen auch gezielt Schulen an, um dort Work­shops zu geben. Mithilfe christlich-fundamentalistischer Literatur, wozu auch das Buch „Schwanger mit 16“ gehört, das die ALfA-Bundesvorsitzende Cornelia Kaminski geschrieben hat, werden Moralvorstellungen wider die sexuelle Selbstbestimmung vermittelt.

In dem Buch können Schü­le­r*in­nen üben „pro choice-Argumente“ zu entkräftigen.

„Es geht sehr stark darum, eine christliche Sexualmoral zu verbreiten“, sagt Len Schmid. So werden antifeministische Thesen durch vermeintliche Aufklärung unter Jugendliche gebracht, die ihren Zugang zur Sexualität gerade erst ausbilden.

Ein prominenter Redner, der von ALfA an Schulen vermittelt wird, ist der Arzt Paul Cullen, der auch im Bundesverband Lebensrecht tätig ist. Cullen äußert sich nicht nur immer wieder antifeministisch, sondern hat im Kontext der Pandemie auch Verschwörungserzählungen verbreitet und 2016 an einem antisemitischen Manifest mitgewirkt.

In krisenhaften Zeiten bieten die Gruppen Halt

Immer wieder gibt es auch Verbindungen der Pro-Life-Bewegungen zu rechten bis rechtsextremen Akteuren, die sich antifeministisch und queerfeindlich, aber auch rassistisch äußern und entsprechend agieren. So ist es keine Seltenheit, dass AfD-Mitglieder wie Beatrix von Storch an „Märschen für das Leben“ teilnehmen. Auch wird positiv Bezug auf Staaten wie Ungarn oder Polen genommen, in denen immer mehr antidemokratische und antifeministische Gesetze verabschiedet werden.

Geht die Strategie der Vereinnahmung von sozialer Arbeit auf? „Für Jugendliche sind das attraktive Angebote“, sagt Ex­per­t*in Schmid. „In krisenhaften Zeiten bieten diese Gruppen etwas, woran sie sich festhalten können.“ Vor allem die niedrigschwellige Ansprache und der erlebnisorientierte Charakter der Veranstaltungen fördern das. Digitale Angebote wie die Veranstaltung der JfdL vereinfachen den Zugang noch. Allerdings gibt es keine Zahlen, die belegen können, wie erfolgreich die Rekrutierung Jugendlicher durch christlich-fundamentalistische Gruppen tatsächlich ist.

Um die Lücke zu schließen, die die Fun­da­men­ta­lis­t*in­nen bedienen, brauche es eine Stärkung der Kinder- und Jugendarbeit, die einem emanzipatorischen Ansatz folgt und zur Demokratieförderung beiträgt, sagt Len Schmid. Und: Aufklärungsarbeit, um die Ideologie hinter den Angeboten sichtbar zu machen. Bei Lehrkräften und Päd­ago­g*in­nen ebenso wie bei Jugendlichen.

Bislang funktioniert solche Aufklärung nur wenig. So ist auf der vom baden-württembergischen Kultusministerium geförderten Bildungsmesse didacta in diesem Jahr auch ALfA mit einem Infostand vertreten. Antifeministische, fundamentalistische Inhalte stehen auf diese Weise neben Biologiebüchern und Englischheften – als wären sie wissenschaftlicher Standard.

Anm. d. R.: In einer früheren Version wurde in diesem Artikel ein Buchzitat falsch zugeordnet. Außerdem hieß es zuvor fälschlicherweise, dass Linder noch Bundesvorsitzende der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. sei. Wir haben die entsprechende Stelle geändert.

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Dieser Text ist Teil der Sonderausgabe zum feministischen Kampftag am 8. März 2024, in der wir uns mit den Themen Schönheit und Selbstbestimmung beschäftigen. Weitere Texte finden Sie hier in unserem Schwerpunkt Feministischer Kapmpftag.

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