Performance Pol Pi und Solistenensemble: Musik, die in der Stille wohnt

Im Radialsystem spürt die Performance „In your head“ von Pol Pi und einem Solistenensemble dem Vermächtnis von Dmitri Schostakowitsch nach.

Vier Musikerinnen stehen auf der Bühne, mit dem Rücken zum PUIblikum. Ihre Instrumente haben sie noch abgelegt

Noch tasten sie nach der Musik: die Streicherinnen des Solistenensembles Kaleidoskop in „In your head“ Foto: Christina Voigt

Seit das Radialsystem im ehemaligen Pumpwerk an der Spree 2006 eröffnet wurde, ist es einem Programmpunkt treu geblieben: die Erlebbarkeit von Musik und Tanz, die Beziehung von Klang und Körper immer wieder aufs Neue auszuloten. 2008 zeigte Sasha Waltz hier ihr Stück „Jagden und Formen“ zu einer Komposition von Wolfgang Rihm, das dessen Suche nach einer Form in ein körperliches Spiel übersetzte. Vor zwei Jahren wurde hier auch „In C“ von Waltz aufgeführt, das musikalische Figuren einer Partitur von Terry Riley in choreografische Formationen übersetzte.

Aber nicht nur Waltz, auch andere ans Haus eingeladene Cho­reo­gra­f:in­nen suchen in der Musik mehr als eine spannende Begleitung. 2022 war der brasilianisch-französische Choreograf Pol Pi Gast des Residenzprogramms „Body Time Space“. Er studierte Musik in Brasilien und spielte die Bratsche, bevor er zum Tanz kam. Vor diesem Hintergrund forschte er am Radialsystem mit Musikerinnen des Solistenensembles Kaleidoskop nach der Musikalität des Körpers. Die, so denkt er, sich auch in der Stille entfalten kann. Ein Ergebnis dieser Forschung ist das Stück „In your head“, das zunächst in Montpellier und Belgien, und zuletzt am Wochenende im Radialsystem aufgeführt wurde.

Es sind vier Musikerinnen, die hier zunächst in der Stille performen. Zwar lassen ihre Bewegungen Spuren des Streichens der Saiteninstrumente mit dem Bogen erahnen, aber bringen auch jede von ihnen in eine andere Richtung. Die Violinistin Anna Faber beginnt, ihre Hände greifen und tasten vorsichtig nach etwas Unbekanntem, sie breiten etwas aus und fassen etwas zusammen. Yodfat Meron folgt, ihre Bewegungen sind hart und zuckend, etwas Machtvolles bedrängt und schüttelt sie.

Sie braucht ihre Kraft als Gegenwehr. Mit Knurren und Hecheln übernimmt die Violinistin Mia Bodet etwas von deren angespannter Energie, von deren Wut, etwas Animalisches tritt in Erscheinung, das bald aber auch in zierlichen Tanzschritten gezähmt wird. Als letzte übernimmt die Cellistin Sophie Nolte, mit langen Gliedern und Fingern, die auf Tuchfühlung mit etwas nicht Sichtbarem gehen.

Schostakowitschs angespanntes Verhältnis zum Stalinismus

Ahnt man in dieser Phase, dass sich die Vier mit einem Quartett von Dmitri Schostakowitsch beschäftigen? Man weiß es womöglich aus dem Programmzettel, konkret erfahren lässt es sich noch nicht. Wohl aber, wie die Vier als Solistinnen sich in der nächsten Phase zum Quartett formen, in Beziehung zueinander setzen, Schwingungen voneinander übernehmen, Nähe und Vertrauen aufbauen, Schutz im Miteinander finden.

Erst im zweiten Teil des Abends nehmen sie die Instrumente in die Hand. Das Streichquartett Nr. 8 in c-moll von Schostakowitsch, 1960 uraufgeführt, gilt als eine Art Vermächtnis des Komponisten, das auch sein angespanntes Verhältnis zu den Forderungen des Stalinismus an die Kultur reflektiert. So viel kann man wissen oder vorher nachlesen.

In der Interpretation von Pol Pi und dem Solistenensemble Kaleidoskop erhält die Musik etwas Gespenstisches und Zerrissenes. Nicht nur weil Schleier die Gesichter der Musikerinnen teilweise verhüllen. Anfangs fahren die Klänge wie Blitze auf eine Ebene nieder; ein Moment des Schocks, dem ein Ereignis des Schreckens schon vorausgegangen zu sein scheint. Einmal könnte man denken, die Musik eines untergegangenen jüdischen Schtetls zu hören, etwas tanzt in die Komposition und zieht wieder hinaus.

Manchmal unterbricht Stille das Quartett, einmal auch Sprache aus dem Off. Pol Pi hat mit den Musikerinnen über ihr Verhältnis zu ihrem Instrument und der Musik geredet, Ausschnitte davon fließen in die Inszenierung ein. Doch davon erhascht man nur einzelne Sätze. Ihren Aussagen zu folgen und sie zu verstehen, ist nicht einfach, so leicht kann man nicht in den Kontext der Zitate finden. So hat diese dokumentarische Ebene noch nicht zu ihrer richtigen Form gefunden.

Doch etwas bleibt hängen, die Suche nach Verbundenheit, nach einem Zusammenhang mit anderen, nach dem Übergang in einen Raum und eine Zeit, die immer mehr umfassen, als der Ort, an dem man grade probt oder übt. Diese Suche nach dem Herauswachsen aus dem Augenblick, sie verbindet die einzelnen Elemente der Performance. Und ein ungewöhnliches Konzert ist sie allemal.

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