Wiederaufbau in der Ukraine: Beton allein reicht nicht

Der Krieg zerstört Familienplanung, Erinnerungskultur und Gesellschaft. Das Nachdenken über den Wiederaufbau ist letztlich Verteidigungspolitik.

Ein Blumenstrauß liegt vor einem zerstörten Gebäude

Von einer russischen Rakete zerstörtes Gebäude in der Stadt Dnipro im Januar Foto: Ximena Borrazas/ZUMA Wire/imago

Kann es vermessen sein, über Wiederaufbau nachzudenken? Wenn der Krieg, dessen Ende allzu oft allzu bald vorhergesagt wurde, nun ein Jahr dauert. Wenn kein Ende in Sicht ist, weil da jemand beschlossen hat, dass es kein Ende geben darf. Wenn die Hoffnung allzu oft zu vorvorletzt gestorben ist. Oder sich, so sie noch lebt, anfühlt wie naives Rumgewünsche? Andererseits muss man über alles, was die Zukunft mehrerer Generationen betrifft, immer genau jetzt anfangen nachzudenken. Und wenn es um den Wiederaufbau der Ukraine geht, geht es nicht nur um Beton. Es geht um so vieles, was eine funktionierende Gesellschaft ausmacht.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Ein Krieg führt zu einem Zukunftsproblem, weil er die Bevölkerung aus der Balance bringt. Menschen sterben, Menschen fliehen, Menschen hören auf, Familien zu gründen. Die Ukraine hatte bereits eine bedrohlich niedrige Geburtenrate, ehe der Krieg begann. Studien finden dafür mehrere systemische Gründe: Eine lange Wirtschaftskrise und große politische Unsicherheit nach dem Systemwechsel 1990, Doppelbelastung von Frauen, der Krieg im Donbass seit 2014.

Der landesweite Krieg seit einem Jahr verschärft die Lage massiv. Selbst in einem Universum, in dem er morgen vorbei wäre und alle dreizehneinhalb Millionen ins Ausland und innerhalb des Landes Geflüchteten sofort dahin zurückkehrten, wo sie Anfang 2020 waren, würde in der jungen und mittleren Generation eine riesige Lücke bleiben.

Erinnerungen gelöscht

Das zerstört Versorgungsnetzwerke in Familien und Gemeinden, es zerstört das Geben und Nehmen zwischen den Generationen, das so viele wichtige alltägliche Kleinigkeiten am Laufen hält. Es lässt den Fluss von Geschichten versiegen, löscht Erinnerungen, die mündlich überliefert wurden, hinterlässt weiße Flecken im kollektiven Bewusstsein. Kurzum, es macht dieses atmende, flirrende, pulsierende Ding kaputt, das wir Gesellschaft nennen.

Damit das Ding wieder lebt, muss natürlich der Krieg enden und natürlich auch Beton her. Aber damit ist es nicht getan. „Für den Krieg mit Russland gibt es eine einfache Lösung“, hat der ukrainischer Analyst Yevhen Hlibovytsky diese Woche provokant dem Sender NPR gesagt, „man muss die feindliche Armee besiegen. Das demografische Problem ist viel komplizierter.“

Darauf zu setzen, dass es nach Kriegen ja häufig einen Familienboom gibt, ist übrigens tatsächlich naives Rumgespiele. Das funktioniert nämlich erstens nur dann, wenn es noch genug potenzielle Eltern gibt. Und zweitens, wenn es eine Perspektive gibt, auf Sicherheit, auf relativen Wohlstand, auf ein Land, in dem man Kinder aufziehen will. Eine solche Perspektive baumelt den Ukrai­ne­r*in­nen in Form der EU seit Jahrzehnten unerreichbar vor der Nase herum. Wenn es stimmt, dass der russische Krieg das Ziel hat, die Ukraine verschwinden zu lassen – dann ist das Nachdenken über einen Wiederaufbau letztlich Verteidigungspolitik.

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