Studie zur Gesundheit von Obdachlosen: „Sie finden keine Hilfe“

Obdachlose sind häufiger krank und fallen zunehmend aus dem Gesundheitssystem heraus. Das zeigt eine Studie des Universitätsklinikums Eppendorf.

Eine Zahnarzthelferin kümmert sich im Gesundheitszentrum für Obdachlose in Berlin um einen Patienten.

Eine Möglichkeit, dem Problem zu begegnen: Behandlung im Berliner Gesundheitszentrum für Obdachlose Foto: dpa / Paul Zinken

HAMBURG taz | Wer in Deutschland einen Therapieplatz oder einen Facharzttermin sucht, braucht Durchhaltevermögen, Glück und oft auch einen festen Wohnsitz. Obdachlose Menschen leiden noch stärker als die Allgemeinbevölkerung unter dem schlechten Versorgungssystem hierzulande.

Dabei ist der Bedarf bei ihnen besonders groß. Eine Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) hat zum ersten Mal deutschlandweit nachgewiesen, dass obdach- und wohnungslose Menschen häufiger als die Allgemeinbevölkerung unter psychischen und körperlichen Krankheiten leiden. Oft wissen die Pro­ban­d*in­nen außerdem nichts von ihren Erkrankungen. Das überrascht nicht, aber trotzdem sind solche Untersuchungen wichtig. Bisher gab es kaum Studien über den Gesundheitszustand von Menschen auf der Straße – eine Leerstelle, die politisches Handeln erschwert.

Im Rahmen der Studie haben Wis­sen­schaft­le­r*in­nen des UKE 651 Menschen in Hamburg, Frankfurt, Leipzig und München untersucht. Nicht alle von ihnen waren obdachlos. Auf der Straße leben viele verschiedene Menschengruppen. Eine Klassifikation der Europäischen Union unterscheidet zwischen vier Hauptgruppen: obdachlosen und wohnungslosen Menschen, Menschen in ungesicherten und in ungenügenden Wohnverhältnissen. Die Spanne reicht von Bettenlagern hinter Containern bis zu überfüllten Wohneinrichtungen.

Einer Studie der Bundesregierung vom Dezember 2022 zufolge haben etwa 263.000 Menschen in Deutschland keinen festen Wohnsitz. Etwa 37.000 von ihnen kommen nicht in offiziellen Unterkünften oder bei Freun­d*in­nen unter und leben vollständig auf der Straße, rund 70 Prozent von ihnen stammen aus Deutschland. In Hamburg leben bundesweit die meisten Menschen ohne festen Wohnsitz. Allein in diesem Winter sind dort bis Anfang Dezember 23 Menschen auf der Straße erfroren.

Wer permanent mit der Bewältigung des Alltags kämpft, könne nicht auch noch eine Wohnung suchen

Die Studie des UKE ist besonders, weil nie zuvor in so großem Rahmen untersucht wurde, wie es diesen Menschen gesundheitlich geht. Frühere Studien, auch eine des UKE, beschränkten sich auf einzelne Städte oder Regionen. Mit den Städten Hamburg, Frankfurt, Leipzig und München wollten die Forschenden nun alle Himmelsrichtungen abdecken.

Fabian Heinrich ist der Ansprechpartner für die Untersuchung und hat als Assistenzarzt daran mitgearbeitet. Er und das Team aus vorwiegend Dok­to­ran­d*in­nen sind von Juli bis September 2022 für die Studie durch Deutschland gereist. Die größte Hürde, sagt er, sei der schwierige Zugang zu obdachlosen Menschen durch unstete Lebensbedingungen und dezentralisierte Versorgung. „Solche Studien sind sehr aufwendig und werden leider nicht regelhaft durchgeführt.“

In vorher kontaktierten Einrichtungen wurden die Menschen befragt und ärztlich untersucht. Konkret heißt das: Den Pro­ban­d*in­nen wurde zum Beispiel Blut abgenommen und sie konnten Fragebögen ausfüllen, mit denen getestet wurde, ob psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen vorliegen könnten. Auch wurden sie gefragt, ob sie von Erkrankungen wüssten.

Das Ergebnis: Die Unter­diagnostik ist bei obdach- und wohnungslosen Menschen besonders hoch. „In fünfzig Prozent der Fälle sehen wir mögliche somatische Erkrankungen, die vorher nicht bekannt waren. Zwei Drittel der Probanden könnten psychische Erkrankungen haben, die zuvor nicht diagnostiziert wurden“, fasst Heinrich die Ergebnisse zusammen.

Vor allem Anzeichen für Herz-Kreislauf- und Stoffwechsel­erkrankungen kamen häufig vor. Ebenso Suchterkrankungen, aber auch Depressionen und Angststörungen. Fabian Heinrich betont, dass die Untersuchungen nur Hinweise auf mögliche Krankheiten geben können und keine feste Diag­nose bedeuten. Trotzdem zeigen die Ergebnisse, dass es einen hohen Behandlungsbedarf gibt, der nicht erfüllt wird.

Warum das so sei, könne eine solche Studie nicht abschließend klären. Fest stehe, dass vielen der Zugang zu Ärzten fehle – mit drastischen Unterschieden je nach Herkunft. „Beim Krankenversicherungsschutz gibt es deutliche Unterschiede: Während 87 Prozent der aus Deutschland stammenden wohnungslosen Menschen in unserer Studie eine Krankenversicherung hatten, waren es bei wohnungslosen EU-Migranten nur 38 Prozent, bei wohnungslosen Mi­gran­t*in­nen von außerhalb der EU 67 Prozent.“

Und auch wer theoretisch versichert ist, geht nicht häufiger ins Krankenhaus. „Wir sehen also einen deutlichen Unterschied im Versorgungszugang, der sich aber nicht in der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen widerspiegelt.“ Das Regelsystem kann obdach- und wohnungslose Menschen nicht auffangen, trotz des hohen Bedarfs.

Das beobachtet auch Julien Peters, der seit 2017 bei der „Straßenvisite“ in Hamburg arbeitet. Ziel des Caritas-Projekts ist es, wohnungs- und obdachlose Menschen psychiatrisch zu versorgen. Die Mit­ar­bei­te­r*in­nen sprechen Menschen auf der Straße an und weisen sie auf die wöchentliche psychiatrische Sprechstunde hin. Der Bedarf sei extrem hoch, sagt Peters. „In einer Sprechstunde kamen teilweise bis zu 25 Leute“, sagt er – viel zu viele für die kurze Zeit.

Nur oberflächliche Hilfe

Neben der Unterdiagnostik beobachtet Peters auch die mangelnde Versorgung: „Viele Menschen wissen sehr genau über ihre möglichen Erkrankungen Bescheid, finden aber keine Hilfe.“ Das liege zum einen an Stigmatisierung und Diskriminierung in Krankenhäusern und ambulanten Psychiatrien, aber auch an bürokratischen Hürden. „Wir haben große Probleme, Leute bei einer ambulanten Psychiatrie unterzubringen, weil sie dafür einen festen Wohnsitz brauchen.“ Das sei nicht immer so gewesen, sondern eine Entwicklung der letzten Jahre. „Das Regelsystem zieht sich immer mehr zurück.“

Diese Leerstelle füllen Angebote wie die „Straßenvisite“. Nicht staatliche Hel­fe­r*in­nen geben Medikamente aus, versorgen die Wunden von obdachlosen Menschen und geben Windeln aus, weil viele schon alt und eigentlich pflegebedürftig sind.

All das sei nur Arbeit an der Oberfläche. Eigentlich, sagt Peters, brauche es spezialisierte Wohneinrichtungen. „Wir können lindern und Symptome behandeln, aber Zugang zu Therapie, Ärzten und zu entspannten Settings haben wir nicht.“ Das führe dazu, dass manche obdachlose Menschen gar nicht wissen wollten, welche Krankheiten sie hätten: „Bei HIV gibt es oft auf beiden Seiten das Einverständnis, dass sich die Leute nicht testen lassen wollen. Denn dann können auch wir den Zugang zu Medikamenten nicht garantieren. Sie sagen dann eher, dass sie nie wieder Geschlechtsverkehr haben werden.“

Wer permanent mit der Bewältigung des Alltags, Sucht und Krankheit zu kämpfen habe, könne nicht auch noch eine Wohnung oder einen Job suchen. „Warum verlangen wir von denen mit den wenigstens Ressourcen am allermeisten?“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.