Am kürzeren Ende der Sonnenallee: Mit dem Moskwitsch in den Westen

Ein Teil der Sonnenallee lag bis zum Mauerfall im Osten. Die Ecke war öde und grau. Eine persönliche Erinnerung an das Leben im Schatten der Mauer.

Blick auf das Mauerdenkmal „Uebergang“

Blick auf das Mauerdenkmal entlang der Sonnenallee Foto: Jens Gyarmaty

BERLIN taz | Von ihrem elterlichen Wohnzimmer aus schaute man auf die Mauer an der Sonnenallee. Wir standen selten dort und blickten auf die graue Grenze aus Beton und Stacheldraht, die die Sonnenallee in einen langen Teil im Westen und eine sehr kurze Strecke im Osten trennte. Für Christiane und mich, meine Schulfreundin Anfang der 80er Jahre, gehörte die Mauer damals zu unserem Alltag wie heute die Freiheit, die Sonnenallee von oben bis unten entlangspazieren zu können.

Berlin wählt. Schon wieder. Die vergangene Wahl war ungültig. Niemand wundert sich darüber. Berlin gilt als kaputt. Geht überhaupt was in der Stadt?

Seit dem Jahreswechsel ist die Sonnenallee im Bezirk Neukölln in aller Munde. Für die einen ist sie Ausdruck einer virilen Großstadt, andere haben Angst, wenn sie nur an den vielen arabischen Läden vorbeigehen. Wer die oft arg aufgeregte Debatte um Clans und Paschas verfolgt, muss glauben, an der Sonnenallee entscheide sich das Wohl und Wehe aller Integrationsbemühungen.

Und sonst? Die Straße hat noch mehr Berlin zu bieten. Sie beginnt am Hermannplatz, wo ein gigantisches Kaufhausprojekt geplant wird. Das Gentrifizierungsgespenst geht um. Und sie endet da, wo früher Ostberlin war. Also: Schaut auf diese Straße!

Die taz widmet deeer Sonnenallee ein Dossier zur Berlin-Wahl.

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Wir waren Schülerinnen der Erweiterten Oberschule Klement Gottwald. Wir lernten Tschechisch und saßen ganz hinten in der Mittelreihe nebeneinander. Die Schule, die heute einem Gymnasium entsprechen würde, gibt es nicht mehr. In dem Gebäude am Plänterwald ist mittlerweile eine Gemeinschaftsschule untergebracht.

Christiane hat immer aufgepasst, alles mitgeschrieben und wusste über alles Bescheid. Manchmal habe ich von ihr abgeschrieben. Hin und wieder sind wir nach der Schule direkt zu ihr nach Hause gefahren, in die Sonnenallee, in einen sogenannten Altneubau mit einer dreistelligen Hausnummer. Christiane, ihre Eltern, ihre Schwester und ihr Bruder wohnten in einem der Q3A-Blöcke, die 1962 an der Sonnenallee bis dicht an die Mauer hochgezogen wurden. Fünf Personen, 55 Quadratmeter, zweieinhalb Zimmer. Zwischen den Häusern Wiesen mit Teppichklopfstangen und Wäscheleinen.

Wenn wir nach der Schule zu Hause bei Christiane ankamen, war meistens ihre Mutter da. Die war Hausfrau und damit eine der wenigen Frauen, die damals nicht arbeiten gingen. In der DDR arbeiteten alle Mütter, selbst die mit ganz kleinen Kindern. Nur eben Christianes Mutter nicht. Ich war schockiert, so ein Hausfrauendasein kannte ich nur aus dem Westfernsehen.

Feine Leberwurst aus dem Westen

Ohnehin war der Westen für Christiane viel näher als für mich und alle anderen in unserer Klasse. Christiane hatte jede Menge Westverwandtschaft, und die schickte fortlaufend Carepakete: Nutella, Kaffee, Jeans, Pelikanfüller. Ich fuhr gern zu Christiane in die Sonnenallee, dort roch es nicht nur nach dem Westen, dort war der Westen zu Hause. Davon wollte ich unbedingt profitieren. In den Westpaketen lagen auch Brot, Butter, Käse, Schinken. Besonders scharf war ich auf die feine Leberwurst – so sahnig und weich, dass sie im Mund dahinschmolz wie Buttercreme.

Eine „Kaufhalle“ von innen kannte Christiane nur von den wenigen Momenten, in denen sie mit uns anderen einkaufen ging. Einen Klamottenladen brauchte meine Freundin sowieso nicht, ich hatte sie, glaube ich, noch nicht einmal in einem Ostschlüpper gesehen. Man könnte es auch so formulieren: Christianes Familie lebte im Westen, sie wohnte nur im Osten.

Ein paar Jahre später hat es der Westen bekanntermaßen auch ans kürzere Ende der Sonnenallee geschafft. Die Häuser wurden saniert, manche erhielten einen farbigen Anstrich, andere blieben grau. An Parterrewohnungen wurden Terrassen angebaut, und da, wo früher die Wäsche zum Trocknen aufgehängt wurde, parken heute Autos. Aber die damalige Traurigkeit am gefühlten Ende der Welt ist bis heute geblieben.

Bis auf einen Edeka-Supermarkt bietet die Ostseite der Sonnen­allee keinerlei Infrastruktur. Kein Café, keinen Blumenladen, keinen Späti. Man muss die in den Boden eingelassene Kopfsteinpflastermarkierung des einstigen Mauerstreifens hundert Meter hinter sich lassen, um auf der Neuköllner Seite der Sonnenallee auf ein erstes Restaurant zu stoßen. Das kroatische Lokal ist – von Ost wie West – so gut besucht, dass man am Sonntagmittag ohne Reservierung kaum eine Chance auf einen Platz hat.

Die Sonnenallee im Osten – das Paradies am 9. November

Auch hier ist die Sonnenallee kein touristisches Highlight. Am 9. November 1989 indes war diese Ecke für mich das Paradies: Gegen halb elf nachts saß ich in einem weißen Moskwitsch, der Wagen schob sich vorbei an den Massen, die auf das Auto klopften und Sektkorken knallen ließen. Der Moskwitsch gehörte dem Musiker Simon Stalter, damals Frontmann von Franky, einer Band, die neben eigenen Songs Funk- und Soulnummern coverte und damit durch die DDR tingelte. Ihren Namen bekam die Band, weil die meisten Gründungsmitglieder Frank hießen.

Am Abend des 9. November spielte Franky mit anderen Bands aus dem sozialistischen Osteuropa im „Haus der jungen Talente“ in Berlin-Mitte vor Plattenfirmen aus dem Westen, eine geschlossene Promo-Veranstaltung für Gruppen aus Ungarn, Rumänien, der DDR und der Sowjetunion. Ich war dabei, weil ich über Franky einen ­Artikel schrieb und die Band eine Weile ­be­gleitete. Es war unruhig im Saal, der Franky-Drummer lief ­ständig raus zu seinem Wartburg und ­versorgte uns aufgeregt mit aktuellen Nachrichten aus dem Auto­radio: Presse­konferenz, live! ­Schabowski hat Westreisen ge­nehmigt! Was? Heute Abend nehme ich den direkten Weg nach Hause – durch Westberlin, ha, ha.

Auf einem Bierdeckel steht "Habe das Erste mal einen Ostler gesehen sieht genauso asu wie alle. danke Moni"

Ein Bierdeckel mit Datum 10.11.89 Foto: privat

Wir zeigten ihm einen Vogel. Bis Sänger Dirk Zöllner von Die Zöllner von der Bühne rief: „Ich würde alle bitten noch hierzubleiben, für die Bands, die noch auftreten, aber: Die Mauer ist auf.“ Doch es dauerte keine fünf Minuten, und der Saal war leer. Simon Stalter sagte zu mir: „Lass uns rüberfahren.“

Eine Kneipe so dunkel wie die Nacht

Mit dem Moskwitsch rasten wir zur Friedrichstraße, war ja gleich um die Ecke. Die war voller Menschen, keine Chance für uns. Dann eben zur Sonnenallee, dort kam man ja auch mit dem Auto rüber. In der Mitte des Grenzübergangs, ungefähr da, wo heute das Mauerdenkmal „Übergang“ steht“, hielten wir uns an den Händen: Ist es tatsächlich wahr? Im Schritttempo rollten wir durch den Jubel – und fanden uns hinter dem „antifaschistischen Schutzwall“ im Nichts wieder. Die Neuköllner Sonnenallee war dunkel, öde und menschenleer. Das soll der Westen sein? Und wohin jetzt?

Wir landeten auf dem Ku’damm, am Lausitzer Platz und irgendwann in der Wiener Straße in einer Kneipe, an deren Wände Tarnnetze hingen. Es war drin fast so dunkel wie draußen, mit Luft wie aus dem Chemiekombinat Bitterfeld und so leer wie die Sonnenallee heute im Osten. Am Tresen flüsterte ein Mann seinem Bier etwas zu, hinterm Tresen stand Moni.

„Wie? Die Mauer ist auf?“ Wirtin Moni hatte nichts mitbekommen, Monis Kneipe war in der Nacht so abgeschnitten von den Breaking News wie Dresden vom Westfernsehen. „Und ihr habt jetzt rübergemacht?“ Moni konnte es nicht fassen, schrieb etwas auf einen Bier­deckel und schob ihn rüber zu Simon: „Habe das erste mahl einen Ostler gesehen sieht genau aus wir alle Danke. moni“

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