Nach Messerattacke bei Brokstedt: Kameras schrecken niemanden ab

Nach dem Messerangriff im Regionalzug bei Brokstedt wird mehr Kameraüberwachung gefordert. Dass die kaum Straftaten verhindert, ist lange bekannt.

Ein Mann mit einer Polizeijacke sitzt vor Bildschirmen, auf denen Kamerabilder von Bahnsteigen zu sehen sind

Alles im Blick: Videoüberwachung am Hamburger Hauptbahnhof Foto: Axel Heimken/dpa

HAMBURG taz | Von der Tat gibt es keine Bilder. Nachdem vor zwei Wochen mutmaßlich der kurz zuvor aus der Untersuchungshaft entlassene Ibrahim A. im Regionalzug von Kiel nach Hamburg bei Brokstedt zwei Menschen mit einem Messer getötet und fünf weitere verletzt hatte, kursierte ein Video in den sozialen Medien, das angeblich im Zusammenhang mit der Tat steht. Es entpuppte sich als Fake.

Auch Bilder einer Überwachungskamera gibt es nicht, der eingesetzte Zug war ein Ersatzzug, in dem keine Kameras installiert waren. Aber hätte es etwas geändert, wenn es dort welche gegeben hätte?

Ein paar Tage nach der Tat forderte der Fahrgastverband Pro Bahn mehr Sicherheitsmaßnahmen in Zügen und Bahnhöfen. „Wir fordern einen flächendeckenden Ausbau der Videoüberwachung in allen Waggons“, sagte Karl-Peter Naumann von Pro Bahn den Lübecker Nachrichten (LN). Sie könne Kriminalität womöglich nicht immer verhindern, helfe aber „in jedem Fall, die Täter zu fassen. Und das ist insbesondere für die Opfer von hoher Bedeutung.“

Auch Schleswig-Holsteins Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) sprach sich eine Woche nach der Tat unter anderem für mehr Videoüberwachung in Zügen und Bahnhöfen aus. „Unser Ziel ist es, vergleichbare Angriffe so weit wie möglich zu verhindern“, sagte sie, auch wenn sich solche Taten durch keine Sicherheitsmaßnahmen ausschließen ließen.

Die Bahn rüstet schon auf

Die Deutsche Bahn rüstet längst auf und will die Zahl der Videokameras an Bahnhöfen in den kommenden Jahren auf rund 11.000 erhöhen. Anlass für das Maßnahmenpaket waren Tötungsdelikte 2019 im Frankfurter Hauptbahnhof und im Bahnhof Voerde, bei denen die Täter ein Kind und eine Frau vor einfahrende Züge gestoßen hatten. 180 Millionen Euro sollen investiert werden, die Bahn übernimmt 40 Millionen, den Rest trägt der Bund.

Dabei lassen Studien zur Videoüberwachung schon lange Zweifel an deren Wirksamkeit aufkommen und neue Erkenntnisse oder Methoden gibt es seit einigen Jahren nicht mehr, trotz der rapiden Zunahme von Kameraüberwachung nimmt das Forschungsinteresse deutlich ab.

2016 hat der Kriminologe Thomas Feltes in einer Stellungnahme für den nordrhein-westfälischen Landtag zur Einführung des neuen Polizeigesetzes den Forschungsstand zur Wirksamkeit von Videoüberwachung zusammengefasst. Drei Ebenen lassen sich Feltes zufolge dabei unterscheiden: die subjektive Wirksamkeit, also eine Erhöhung des Sicherheitsgefühls, die objektive Sicherheit, also die Abschreckung potenzieller Täter:innen, und die Verbesserung der Strafverfolgung durch die Überführung von Täter:innen.

Feltes’ Fazit: Obwohl die Videoüberwachung in der Bevölkerung breite Zustimmung erhalte, lasse sich das subjektive Sicherheitsempfinden durch sie nur möglicherweise und vorübergehend erhöhen, etwa durch deren mediale Vermarktung. Es könne aber ebenso schnell wieder abnehmen, wenn klar werde, dass sie unwirksam sei.

Studien hinterfragen die Wirksamkeit

Eine abschreckende Wirkung, die Kriminalität reduziert, lasse sich nur sehr bedingt, nämlich bei Eigentumsdelikten vor allem in Parkhäusern nachweisen – wenn dort auch die Beleuchtung verbessert werde. Ansonsten hätten Studien keine signifikanten Unterschiede feststellen können. Insbesondere „Gewaltverbrechen und spontan begangene Straftaten können Kameras nicht verhindern“, so Feltes.

Auch in Bezug auf die Wirksamkeit von Videoüberwachung für die Aufklärung von Straftaten zeichnen Studien ein nüchternes Bild: Zwar erleichtern Kameraaufnahmen im Einzelfall, Tatverdächtige zu überführen, diese müssen aber dennoch ermittelt werden, bei Unbekannten gelingt das nur in Ausnahmefällen.

Auch beim Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) hat das Innenministerium in Düsseldorf 2018 eine Studie in Auftrag gegeben. Das KFN untersuchte Videoüberwachung in sieben Städten und fand heraus: „Die Videobeobachtung hat nur in einer Stadt zu einer nennenswerten Reduktion des Kriminalitätsaufkommens beigetragen. Der beobachtete Effekt fiel darüber hinaus sehr schwach aus.“

In Dortmund sei die Straßenkriminalität im überwachten Raum außerdem angestiegen. Auch das KFN kommt zum Schluss, dass Gewaltdelikte, die im Affekt und ohne vorherige Risiko-Nutzen-Abwägung der Tä­te­r:in­nen stattfinden, durch Kameraüberwachung nicht verhindert werden können.

Zweifel sind auch angebracht, ob künftig intelligente Videotechnik wirksamer sein kann. Am Berliner Bahnhof Südkreuz erprobt die Bahn seit dem vergangenen Jahr im Projekt „Sicherheitsbahnhof“ den Einsatz sogenannter Verhaltensscanner, die mithilfe von Mustererkennung und Videotracking gefährliche Situationen erkennen sollen. Das Projekt soll langfristig wissenschaftlich begleitet werden.

Die grundsätzlichen Probleme der Kameraüberwachung – etwa die nicht intendierten sozialen Folgen wie die Diskriminierung und Exklusion sozialer Gruppen – wird der Einsatz von künstlicher Intelligenz wohl eher verschärfen. Sicher ist nur eins: Mehr Überwachungstechnik führt zu mehr Überwachung.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.