Sozialpolitik in Berlin: Die Jugendhilfe kollabiert

Mit­ar­bei­te­r*in­nen der Jugendhilfe machen mit einer besonderen Aktion vor dem Roten Rathaus auf ihre prekären Arbeitsbedingungen aufmerksam.

Eine Frau liegt auf dem vereisten Bürgersteig vor dem Berliner Rathaus unter Akten begraben.

Von Akten begraben: Mit­ar­bei­te­r*in­nen der Jugendhilfe schaffen die Arbeit nicht mehr Foto: Ann-Kathrin Leclère

BERLIN taz | Eine Mitarbeiterin der Jugendsozialarbeit legt sich an einem Februarmorgen auf den gefrorenen Boden vor dem Berliner Rathaus. Mit­ar­bei­te­r*in­nen der Jugendämter und So­zi­al­ar­bei­te­r*in­nen stapeln Dutzende Akten auf ihrem Körper.

Zwei halten ein Banner: „Wir schützen Kinder, wer schützt uns?“ steht darauf. Mit dieser Aktion machen die etwa 80 Protestierenden der Jugendhilfeeinrichtungen die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) auf die Überlastung der Jugendämter und freien Träger aufmerksam.

„Zu wenig Zeit, zu viele Familien, denen wir nicht helfen können. Wir befinden uns im Kollaps“, fasst Hannes Wolf vom Berufsverband für Soziale Arbeit (DBSH) zusammen. Die AG weiße Fahnen, DBSH und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hatten ihre Kol­le­g*in­nen der Jugendämter und Jugendnotdienste zur Demonstration aufgerufen.

Geringe Bezahlung der Mitarbeiter*innen, mehr Kinder, die aufgrund der Gefahrensituationen zu Hause in Obhut genommen werden, und Personalmangel sind nur einige der Probleme, welche die Spre­che­r*in­nen auf der Demonstration schildern.

Mysterien der Jugendarbeit

Die Überlastung des Systems habe sich weiterhin zugespitzt wegen der vielen Geflüchteten, die nach Berlin kommen und Jugendhilfe ebenso in Anspruch nehmen müssen. Auch habe die Anzahl der Kinder, die wegen akuten Gefahrensituationen in ihrer Familie Unterstützung brauchen, nach der Coronapandemie zugenommen, schildert Fabian Schmidt (GEW).

„Wir wollen aber keine Menschen gegeneinander ausspielen“, betont er. Wichtig sei, dass der Bedarf an Hilfsangeboten viel höher liege, als tatsächlich geleistet werden kann.

Schmidt fordert deshalb, dass die Senatsverwaltung transparent darlegt, wie das Personal bemessen wird. „Das Modell ist eines der Mysterien der Jugendarbeit“, ruft er durchs Mikrofon. Wie prekär das sei, bekäme man mit, wenn bei dringenden Absprachen niemand beim Jugendamt erreicht werden kann.

Der Personalbedarf müsse daher mit der Jugendhilfe abgestimmt und angepasst werden. Die Protestierenden wünschen sich, dass Senat und Bezirke Verantwortung übernehmen und nach der Wahl ein Sofortprogramm erstellen.

Zu der Demo hatten die Ver­tre­te­r*in­nen der Jugendhilfe alle Parteien eingeladen. Nur Christoph Keller, linker Jugendstadtrat aus Mitte, stellt sich vor das Mikrofon. Er setzte sich bei städtischen Verhandlungen für Jugendämter ein, die Anwesenden sollten das verstehen. „Zu spät“, tönt es aus den Reihen der Zuschauer*innen.

Gegen prekäre Arbeit zusammenhalten

Solidarität unter den unterschiedlichen Trägern sei das Wichtigste, meint eine Sprecherin und erntet Applaus. „Wir sind stolz auf die Kol­le­g*in­nen, die sich wehren und immer wieder Überlastungsanzeigen schrei­ben, meint Schmidt.

Diese Anzeigen dienen als Hinweis für die Arbeitgeberin, dass die Mit­ar­bei­te­r*in­nen ihre Arbeit nicht mehr richtig ausführen können. Die Jugendhilfe hofft so, Druck auf die Senatsverwaltungen auszuüben und aufzuzeigen, in welcher prekären Lage sich die freien Träger und Jugendämter befinden.

Manchmal helfe ein Blick in andere Bundesländer, schildert Harith Krenitz von der AG Weiße Fahnen. Was in Berlin Arbeit für eine Person sei, wären in Bayern 2,5 Stellen. Ungläubiges Gelächter aus dem Publikum.

„Man muss sich immer klarmachen, dass es hier um Familien, um Menschen, geht und nicht um Akten“, schließt Schmidt. Helfende Hände befreien die Mitarbeiterin aus dem Aktenberg. „Vorsicht, mein Knie ist kaputt“, ruft sie noch.

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