Islamisten in Iran: Unterschiedliche Ziele

Beim Protest gegen den Schah hatten nicht alle dieselbe Alternative vor Augen. Jetzt gilt es, sämtliche Gesellschaftsschichten zu berücksichtigen.

Illustration: Katja Gendikova

Unsere Kinder und Enkelkinder, die seit Mitte September gegen die Islamische Republik rebellieren und deren Sturz fordern, stellen uns immer wieder die Frage, warum wir den Aufstand gegen das Schah-Regime mitorganisiert, 1979 die Revolution unterstützt und damit ihnen den islamischen Gottesstaat beschert haben. Ihr habt doch wissen müssen, was die Mullahs im Schilde führten, welche Vorstellung sie vom Leben hatten, sagen sie vorwurfsvoll.

Vermutlich werden viele von denen, die solche Fragen stellen, nicht wissen, dass wir damals, genau wie sie heute, von einem demokratischen Staat, von Gleichberechtigung, sozialer Gerechtigkeit und Freiheit träumten. Ja, Iran war damals zwar ein säkularer Staat, die Religion hatte kaum Einfluss auf die Politik, sie war eine private Angelegenheit.

Aber das Land wurde von einer Diktatur beherrscht, die 1953 durch einen von den USA und den Briten organisierten Putsch gegen die demokratische Regierung von Mohamad Mossadegh an die Macht gekommen war. Mossadegh hatte die iranische Ölindustrie, die bis dahin von Briten beherrscht wurde, nationalisiert und er war der erste Politiker in Iran, der versuchte, in unserem Land demokratische Strukturen zu etablieren. Der Putsch setzte diesem Versuch ein jähes Ende.

Die Briten und die USA holten den Schah, der nach Italien geflüchtet war, ins Land zurück, rüsteten sein Regime mit modernsten Waffen auf, organisierten den Geheimdienst Savak und den gesamten Machtapparat und sicherten damit ihre ökonomischen und geostrategischen Interessen, nicht nur in Iran, sondern in der gesamten Region des Nahen und Mittleren Ostens. Mit Recht wurde das Schah-Regime als Gendarm am Persischen Golf bezeichnet, der die Aufgabe hatte, jede Opposition gegen die Interessen des Westens niederzuschlagen.

Volk im Trauma

Der Putsch war die Erniedrigung eines ganzen Volkes, er wurde zu einem Trauma, das bis heute anhält. Ohne diesen Putsch hätte es nie und nimmer eine Machtübernahme durch die Islamisten geben können. Die 25-jährige Diktatur, die dem Putsch folgte, hielt das Land unter strenger Kontrolle. Jeder Protest, jede Kritik wurde erstickt und mit Strafen bis zur Hinrichtung geahndet. Allein der Besitz eines verbotenen Buchs reichte, um mit mehrjährigem Gefängnis bestraft zu werden. Hätten wir da schweigen und die Unterdrückung erdulden sollen?

Natürlich wären Reformen weitaus besser ­gewesen als eine Revolution. Doch so wie heute zwang auch damals das Regime durch seine ­Weigerung, Reformen zuzulassen, Kritiker und Gegner zu radikalen Positionen. Es ließ keine unabhängigen Parteien, Gewerkschaften, Vereine und Verbände zu. Alle Rechte, wie Freiheit der Meinungsäußerung und der Versammlung, waren ­außer Kraft gesetzt. Genauso wie die ­Demonstranten heute hatten wir damals das Recht, ja die Pflicht, gegen das Regime zu rebell­ieren und seinen Sturz zu fordern.

Für uns, die von Freiheit und Demokratie träumten, stand die Fortsetzung des Weges von Mossadegh auf der Tagesordnung der Geschichte. Dem entsprach auch die Parole „Unabhängigkeit und Freiheit“, die zu Beginn des Aufstands gerufen wurde. Wie glücklich waren wir, als Millionen auf den Straßen den Sturz des Regimes forderten, als das Regime kapitulierte, als wir die Tore des berüchtigten Eviner Gefängnisses in Teheran aufbrechen und die Gefangenen befreien konnten.

Blinde Hoffnung

Alle fühlten sich glücklich, jeder hoffte auf die Erfüllung seiner Wünsche und Bedürfnisse. Aber nicht jeder träumte von Demokratie und Freiheit. Es gab auch Kräfte im Land, die andere Träume hatten, zum Beispiel Träume von einem islamischen Gottesstaat. Auf diesem Auge waren wir blind. Wir hatten unsere Gegner unterschätzt, wussten nicht, welche Kraft der Islam hatte, wie hoch der Einfluss der Geistlichkeit war.

Wir hatten uns nicht vorstellen können, dass Millionen Menschen nicht unserem Ruf nach Freiheit und Demokratie, sondern dem Ruf Ajatollah Chomeinis und seinen Anweisungen folgen würden. Chomeini versprach nach seiner Übersiedlung aus dem irakischen Exil nach Paris dem Volk den Himmel auf Erden, und die Massen glaubten ihm, sahen sein Antlitz im Mond und hielten ihn für den Messias, den verborgenen Imam, der sie aus ihrem Elend retten und für Gerechtigkeit sorgen werde.

Wir konnten uns nicht vorstellen, dass Millionen Menschen nicht unserem Ruf nach Freiheit, sondern dem Ruf Ajatollah Chomeinis folgen würden

Chomeini richtete seine Appelle an die „Barfüßigen und Habenichtse“, wie er die verarmten Massen nannte, wir hingegen appellierten an Intellektuelle, Akademiker, Studenten und Angehörige der Mittelschicht. Die breiten bildungsarmen, unaufgeklärten Massen, die die Mehrheit der Bevölkerung bildeten, kannten wir kaum, wussten nicht, wie gläubig, ja abergläubig sie waren. Daher konnten wir uns auch nicht vorstellen, dass die Islamisten irgendwann die Macht übernehmen könnten.

Nicht wir, sondern die Islamisten waren in der Lage, Millionen Menschen zu mobilisieren. Damit konnten sie sich wenige Monate vor dem Sturz des Schah-Regimes an die Spitze des Aufstands stellen. Von da an wurde die Parole der Revolution durch „Islamische Republik“ ergänzt. „Unabhängigkeit, Freiheit, Islamische Republik“, skandierten fortan die Millionen Demonstranten, wobei kaum jemand wusste, wie eine islamische Republik überhaupt aussehen sollte.

Die totale Islamisierung

Mit Hilfe dieser Massen übernahmen die Islamisten die Macht. Ihr Ziel war die totale Islamisierung der Gesellschaft, eine Gesellschaft wie die, die die Taliban in Afghanistan später schon einmal praktiziert haben und nun wieder aufzubauen versuchen. Alles sollte sich nach den Wünschen Chomeinis und seiner Weggefährten nach dem Islam richten. Damit sollte das Volk eine neue Identität bekommen, eine islamische Identität.

Dass sie dieses Ziel auch nach 44 Jahren nicht erreicht haben, ist der iranischen Zivilgesellschaft, allen voran iranischen Frauen, zu verdanken. Diese Zivilgesellschaft, die die Revolution unterstützte, um Freiheit, Gerechtigkeit und Unabhängigkeit zu erlangen, war dieselbe, die von Anbeginn gegen die Pläne der Islamisten Widerstand leistete. Ihr ist auch zu verdanken, dass die Menschen sich schrittweise von den Islamisten abwendeten.

Unsere Kinder und Enkelkinder, die sich heute mutig der klerikalen Despotie entgegenstellen, sind ein Produkt dieses zähen, über die Jahrzehnte andauernden Widerstands. Es bedurfte eines langen Prozesses und des Scheiterns der Reformversuche, bis der Widerstand die heutige Qualität erreicht hat. Dieser Prozess und zuletzt die gegenwärtigen Proteste haben schrittweise die Fratzen der korrupten Islamisten entlarvt, die hinter religiösen Masken getarnt waren.

Dennoch sollte man nicht übersehen, dass weite Teile der Bevölkerung an diesem Prozess nicht beteiligt waren. Noch pilgern täglich Tausende Frauen und Männer zu dem Brunnen in Jamkaran, in dem sich vermeintlich der verborgene Imam Mahdi (der schiitische Messias) befinden soll, werfen ihre Bittschriften und Spenden hinein, mit der Hoffnung, der „verborgene Imam“ werde ihre Wünsche erfüllen.

Aus den Fehlern lernen

Nun kann man hoffen, dass die Akteure der gegenwärtigen Proteste unsere Fehler nicht wiederholen und mit Blick auf die gesamte Bevölkerung und auf die Bedürfnisse unterschiedlicher Gesellschaftsschichten strategisch und planmäßig vorgehen und dabei bedenken, dass sie nur erfolgreich sein können, wenn sie die Massen für sich gewinnen können. Daher müssen sie konkrete Forderungen stellen und eine für das Volk glaubwürdige Alternative anbieten.

Auch sollten sie nicht, wie wir damals, den Gegner unterschätzen und nicht die Tatsache außer Acht lassen, dass Millionen Menschen existenziell von dem Regime abhängig sind, dass jene, die auf Seiten des Re­gimes kämpfen, einer ideologischen Gehirnwäsche unterzogen wurden. Vor allem aber sollten sie die Brutalität der Gottesmänner nicht unterschätzen, die alles zu verlieren haben und daher niemals freiwillig das Feld räumen werden. Sie werden kein Verbrechen scheuen, um ihre Macht zu behalten.

Schließlich sollten die Akteure bedenken, dass kaum ein Land an einem demokratischen, unabhängigen Staat Iran interessiert ist. Die neuen Verbündeten der Islamischen Republik, Russland und China, nicht und schon gar nicht die arabischen Nachbarstaaten, für die ein selbstbestimmtes, gleichberechtigtes Land in ihrer Nachbarschaft ein Horror wäre. Auch westliche Staaten lassen sich eher von ökonomischen und geostrategischen Interessen leiten als von ihren Bekundungen zu Menschenrechten und Demokratie.

Folglich sollte, um jede Art der Wiederholung der Geschichte zu vermeiden, jede Einmischung der Außenmächte unterbunden werden. Die Iranerinnen und Iraner haben immer wieder gezeigt, dass sie zum Kampf gegen Despoten, gegen Unterdrückung und Unrecht bereit sind, sie haben aber auch oft Enttäuschungen erlebt. Auch jetzt gibt es breite Solidarität mit den Aufständischen, die mit bewundernswertem Mut und Opferbereitschaft der Diktatur der Mullahs die Stirn bieten.

Aber man will auch die Gewissheit haben, nicht wieder vom Regen in die Traufe zu kommen. Liebe Kinder und Enkelkinder, ich bin zuversichtlich, dass es uns gemeinsam gelingen wird, diesen brutalen und menschenfeindlichen islamischen Gottesstaat für immer zum Teufel zu schicken. Aber wir haben noch einen langen, mühsamen Weg vor uns.

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ist Journalist und Autor zahlreicher Bücher. Im Dezember erschien: „Der mühsame Weg in die Freiheit – Iran zwischen Gottesstaat und Republik“.

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