Wo Bierdosen über den Boden rollen: Vom ursprünglichen Charme

Die Große Bergstraße in Hamburg-Altona hat nicht richtig was aus sich gemacht. Zumindest bisher. Da ist ein Glück.

Blick auf Ikea in der Großen Bergstraße in Hamburg-Altona

Die Große Bergstraße in Hamburg-Altona Foto: Daniel Reinhardt/dpa

Ich ziehe die Gardine auf, und da wartet schon der Tag, grau und nass. Ich nehme Vitamin D, aber ich glaube, es ist zu wenig oder es hilft nicht. Nichts hilft. Und da beschließe ich, mich alldem einfach hinzugeben.

Ich gehe, die Fäuste in den Taschen vergraben, auf der Großen Bergstraße in Hamburg-Altona spazieren. Die Große Bergstraße übt eine große Anziehungskraft auf mich aus. Die Stadt hat nicht geschafft, richtig etwas aus ihr zu machen.

Einmal sagte ein Mann, der sich „Coach“ nannte, zu meinem Freund, wenn er wollte, könnte er richtig etwas aus sich machen. Aber warum sollte man so etwas wollen? Leute, die richtig etwas aus sich gemacht haben, sind lästig und unangenehm. Guck die dir doch nur mal an!

Das gilt auch für Orte. Hamburg ist voll davon, Straßen, Plätze, Viertel, aus denen richtig etwas gemacht wurde, in völliger Blindheit gegen­über dem, was sie bereits waren. Niemand will sie, niemand fühlt sich in und auf ihnen wohl, außer vielleicht Tou­ris­t*in­nen natürlich, die sehen nicht durch.

Was ist mit denen, die einfach keine Lust haben, richtig etwas aus sich zu machen?

Und was ist mit dem Rest?

Was ist mit den Menschen und den Straßen, die einfach keine Lust haben, richtig etwas aus sich zu machen?

Abstecher unerlässlich

„Um den ursprünglichen Charme Altonas als Arbeiter- und Migrationsviertel zu spüren, ist ein Abstecher in die Große Bergstraße jedoch unerlässlich“, heißt es auf der Website hamburg-tourism.de. Jo! Die Große Bergstraße hat es (noch) nicht geschafft, den „ursprünglichen Charme“ loszuwerden, es gibt hier Arbeiter und Migranten, die den Charme direkt um sich herum versprühen, mit ihrer Arbeiter- und Migrantenlebensweise. Oder wie soll man sich das vorstellen?

Wir haben hier übrigens auch Trin­ke­r*in­nen und Obdachlose, rumlungernde Jugendliche, Arbeitslose und Bettler, psychisch Kranke, arme Ren­te­r*in­nen und Großfamilien. Leute, denen man direkt ansieht, dass sie nicht richtig was aus sich gemacht haben, das vielleicht gar nicht wollen, die in der Großen Bergstraße rumschlendern und sich hier nicht falsch fühlen oder unerwünscht.

In der Großen Bergstraße habe ich mir ein Stück Wachstuch von der Rolle gekauft, für den Küchentisch. In der Großen Bergstraße habe ich das erste Mal mein Kind gesehen, auf dem Bildschirm in der Gynäkologie. In der Großen Bergstraße sitze ich auch gern draußen beim Vietnamesen, während die Tauben von den Bäumen auf meinen Tisch scheißen.

Vor dem Kiosk schreien sich ein paar Männer an. „Arschloch!“, schreit ein Mickriger und fällt von dieser Anstrengung hin, seine Dose rollt über den Boden und verschenkt ihr Bier an den Tag. Im Erdgeschoss von Ikea proben Jugendliche hinter den Schaufenstern das Wohnen, ein Greis ist auf einem Sofa im Sitzen eingenickt, im Eingangsbereich stricken Kopftuchfrauen.

„Ich steh auf Blonde“, sagt ein dicker Zwölfjähriger in Trainingshose vor der TK-Maxx-Filiale zu seinem Kumpel, der noch ein Kind ist, „obwohl, schwarz ist auch gut, aber blond …“ „Hö, ja“, sagt der Kleine, mehr fällt ihm dazu nicht ein.

Ein Mann mit vollen Aldi-Tüten in den Händen tritt mir freimütig rülpsend entgegen. Zwei Mädchen kreischen über ihrem Handy und können sich kaum mehr beruhigen, theatralisch schütteln sie ihre wunderschönen langen Haare. Ich kaufe mir ein Buch von Georges Perec im kleinen Buchladen ZweiEinsDrei. „Da gibt’s auch einen Film auf Youtube“, sagt der Buchhändler.

Irgendwann werden sie denken, dass man auch aus dieser Straße richtig was machen könnte.

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Dieser Artikel stammt aus dem stadtland-Teil der taz am Wochenende, der maßgeblich von den Lokalredaktionen der taz in Berlin, Hamburg und Bremen verantwortet wird.

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