Erregte Gesellschaft: Kokain im almanischen Diskurs

Als Journalist interessiert unseren Autor, was die Menschen bewegt. Wenn er dann erfährt, was sie kaltlässt, erstaunt und entfremdet ihn das immer häufiger.

Eine Hand hält einen Feuerwerkskörper, die andere Hand zündet diesen

Jugendliche, die ihre Böller-Liebe ausleben, sind Kokain im gesellschaftlichen Diskurs Foto: Marc Gruber/imago

Mit Erstaunen beobachte ich immer öfter, auf was ein Gros dieser Gesellschaft emotional reagiert – und was halt so gar nicht juckt. Zum ersten Mal hatte ich diesen Gedanken, als ich mit einigen Ham­bur­ge­r*in­nen nach dem G20-Gipfel im Jahr 2017 sprach.

Richtig traurig, melancholisch und seelisch verletzt erzählten mir die Hamburger Bürgis von der zertrümmerten Fassade ihrer Sparkasse. Ja, jemand sagte unironisch „unsere Sparkasse“. Meist folgte darauf ein Hoffnungsschimmer, ein Regenbogen am Horizont, ein Lichtkegel durch die grau-depressive Wolkendecke der Hansestadt: Denn alle hatten sie das Spiegel-Video gesehen, wie An­woh­ne­r*in­nen im Kiez die Straßen fegten – obwohl die Stadtreinigung schon längst alle Scherben beseitigt hatte, aber irgendwo findet sich immer ein bisschen Dreck.

Es ist faszinierend, wie die Affekte einiger Menschen politisch stimuliert werden können, und ich habe nebenbei auch verstanden, dass die Sparkasse diese komische Perle zu sein scheint, von der alle in Hamburg immer sprechen.

Als Journalist interessiert mich, was die Menschen bewegt. Nur ist es immer häufiger eine Entfremdung, zu erfahren, was sie kaltlässt: Wenn CumEx-Bankiers, Wirecard-Manager, Profifußballer, AfD-Politiker oder Alice Schwarzer Unmengen an Steuern hinterziehen, regt sich die Masse nicht so auf.

Eine Schieflage, die sich über Jahrzehnte aufgebaut hat

Wenn ein*e Hartz-IV-Empfänger*in gegenüber dem Jobcenter ihre sogenannte Bedarfsgemeinschaft verschweigt, ja, dann geht das emotionale Karussell ab. Diese gesellschaftlich-emotionale Schieflage hat sich über Jahrzehnte aufgebaut. Sie macht es mir als Autor schwer, politisch relevante Geschichte so zu erzählen, dass sich die Menschen damit befassen.

Reichsbürger mit Umsturzplänen? Für die almanisch-emotionalen Gehirnzonen wirkt das wie Melatonin. Ein paar Jugendliche, die ihr – laut bürgerlichen Glaubenssätzen – Menschenrecht auf Böllern ausleben? Kokain im gesellschaftlichen Diskurs.

Dabei gibt es diese komische Differenzierung, wenn zum Beispiel Po­li­zis­t*in­nen geklatscht werden. Kann man daraufhin Fragen nach Vornamen der An­grei­fe­r*in­nen stellen (alias „Es waren die Ausländer!“), kochen die Emotionen über wie in einer heißen Kasserolle mit schneeweißem Milchschaum.

Haben die Angreifer bei ihrem Feldzug gegen die Polizei „Sieg heil!“ gerufen, blubbert die Milch höchstens ein bisschen vor sich hin oder bleibt ganz kalt. Mit dem einen kann man Wahlkampf und Quote machen, das andere ist halt langweilig. Und das hängt alles damit zusammen, was das Publikum triggert und wogegen sich viele in Deutschland immunisiert haben.

Gefühle zeigen Deutsche „nur bei Cems“, wie es ein Radiomoderator mit Blick auf die mutmaßlich arabischstämmigen Jugendlichen formulierte, die in der vergangenen Silvesternacht Feuerwehrmänner angegriffen haben sollen. Lustig ist das, weil kein Araber Cem heißt. Aber Emotionen müssen ja keine faktische Grundlage haben.

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Mohamed Amjahid ist freier Journalist und Buchautor. Bei Twitter schreibt er unter dem Handle @mamjahid, bei Instagram @m_amjahid. Seine Bücher "Der weiße Fleck. Eine Anleitung zu antirassistischem Denken" und "Let's Talk About Sex, Habibi" sind bei Piper erschienen.

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