Proteste in Lützerath: Vorteile der Bewegung

In Lützerath stießen mit Polizei und Pro­tes­tie­renden zwei unterschiedliche soziale Gruppen aufeinander. Eine organisationssoziologische Analyse.

Viele Demonstranten stehen vor einer Polizeikette

Die Demonstranten stehen wenige Meter vor dem Absperrzaun vor Lützerath Foto: Roland Geisheimer/attenzione/focus

Die Räumung Lützeraths ist vorbei; die Diskussion über das Geschehene allerdings noch lange nicht. Ein Protestmittel, welches besonders die medialen Bilder prägte und in der Kritik stand, waren Steine. Steine, die auf das Einsatzpersonal der Polizei flogen. Nicht nur Polizei und Po­li­ti­ke­r*in­nen verurteilten dies scharf. Videos in den sozialen Medien zeigen, dass auch Protestierende immer wieder „Keine Steine!“ riefen, sobald diese in Richtung Einsatzpersonal flogen.

Warum versuchten auch Protestierende aktiv, dies zu unterbinden? Für die Protestbewegung bedeuteten diese Steine neben ihrer moralischen Fragwürdigkeit vor allem eines: die Gefahr, den eigenen Erfolg zu riskieren. Proteste leben von der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Aktionen, die umstrittenes Handeln von Staat und Unternehmen skandalisieren und Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sind ihr Lebenselixier. Überraschende Aktionen mit viel Masse und Wucht sind ihre Spezialität.

Prägen aber Bilder von Gewaltaktionen – wie hier die fliegenden Steine – das Image der Proteste in den Massenmedien, besteht die Gefahr, Solidarität in der Bevölkerung zu verlieren. Doch diese ist essenziell für den Erfolg von Protestbewegungen. Bestenfalls müssen Proteste also die Entscheidung treffen, lediglich friedlichen Widerstand zu leisten, um keine Körperverletzung von Einsatzpersonal und womöglich Ak­ti­vis­t*in­nen zu riskieren.

Und hier wird es spannend: Warum fällt diese Entscheidung der Protestbewegung so schwer? Der Grund liegt nicht etwa am mangelnden Willen oder der Qualität eines Protests. Er liegt in seiner Struktur.

Organisationen, wie sie in Lützerath in Form der Polizei auftreten, haben gegenüber Protestbewegungen einen strukturellen Vorteil. Sie können verpflichtende Erwartungen stellen: Wenn man bei ihnen Mitglied ist, hat man sich an formale Bedingungen zu halten, denen man mit Eintritt in die Organisation zustimmt: Sie beinhalten, eigenes Handeln an den Zielen der Organisation und nicht an seine eigenen Überzeugungen anzupassen – selbst wenn also in Lützerath Po­li­zis­t*in­nen vor Ort waren, die sich emotional mit den Protestierenden solidarisierten, musste dies privat bleiben.

Es durfte nicht ihre Handlungen als Einsatzkräfte beeinträchtigen. Erhalten sie die Anordnung, eine Blockade zu räumen, müssen sie dieser Folge leisten, egal was sie gerade darüber denken. Und mit Rückblick auf die Proteste ist dies auch nicht passiert: Bislang ist kein Fall von Dienstverweigerung seitens der Po­li­zis­t*in­nen bekannt. Denn diese hätte für sie dienstrechtliche Sanktionen zur Folge.

Bei den Protestierenden war genau das Gegenteil der Fall: Sie waren gerade wegen ihrer persönlichen Meinung anwesend. Die Ak­ti­vis­t*in­nen waren dabei bedeutend weniger an die Erwartungen einer überstehenden Instanz gebunden. Dabei waren Ermahnungen zur Friedlichkeit von eigenen Führungspersonen vermutlich prägend – wenn die Protestierenden diese jedoch nicht umsetzen wollten, griff kein Sanktionsmechanismus wie bei der Polizei. Die Protestierenden waren nämlich statt Organisationsmitgliedern lediglich Anhänger des Protests.

Als solche konnten sie sich selbst Aufgaben und die Art ihres Protests aussuchen – auch wenn sie sich ethisch fragwürdig verhielten, mussten sie nicht mit einem Rausschmiss rechnen. Denn erstens zählte für die Protestbewegung immer noch jede Person, die sich mit ihrem Körper der Räumung Lützeraths entgegensetzte. Und außerdem gab es keinen Sanktionshebel: Kei­n*e Ak­ti­vis­t*in konnte von der Protestbewegung selbst des Geländes verwiesen werden, weil es keine legitimierte Instanz gab, die dies entscheiden konnte.

Eine Anhängerschaft hat jedoch auch Vorteile gegenüber der Mitgliedschaft: Wegen ihres leichten Einstiegs schaffen es Bewegungen gegenüber Organisationen nahezu unbegrenzt, An­hän­ge­r*in­nen zu rekrutieren. Auch wenn die Polizei NRW weiterhin Einsatzkräfte aus ganz Deutschland mobilisiert hat – die Protestierenden schafften es, mehr Menschen als erwartet nach Lützerath zu bringen.

Diese Menschen ließen sich bei der Umsetzung des Protestes zwar strategisch nicht auf einen Nenner bringen. Aber es waren doch Menschen, die die gleichen Werte und vor allem das gleiche Ziel verfolgten. Dass die Protestierenden es deshalb schafften, trotz Polizeiketten zu dem Tagebau vorzudringen, war deshalb wenig überraschend.

Weitere Begegnungen mit der Polizei

Anhänger der Protestbewegung versus Mitglieder der Polizei – wer hat gewonnen, und wie geht es weiter? Auf beiden Seiten gab es Verletzte; auch Vorwürfe, Gewalt ausgeübt zu haben, treffen beide Parteien. Dennoch ist das Kernziel der Polizei erreicht: Lützerath ist geräumt. Aber: Trotz schlechten Wetters waren Tausende mehr zu den Protesten gekommen, als allgemein erwartet wurde. Und Ak­ti­vis­t*in­nen setzen nun ihren Protest außerhalb von Lützerath an Kohlebaggern und Bahnschienen fort. Es wird also auch künftig weitere Aufeinandertreffen von Polizei und Ak­ti­vis­t*in­nen geben.

Und wer ist dann im Vorteil? Die unterschiedlichen Eigenschaften von Protestbewegungen und formalen Mitgliedern wie bei der Polizei werden bleiben. Die Polizei wird auch weiterhin Vorteile aufbieten können, wenn es um ein entschiedenes und einheitliches Auftreten geht. Aber auch die Protestierenden werden ihre Stärken halten können: Schnelles und eindrucksvolles Vorgehen kann für Überraschungen sorgen und die begrenzte Spontanität der Po­li­zis­t*in­nen strapazieren.

Nun liegt es an dem Umfang und der Art des Protests, inwieweit die Ak­ti­vis­t*in­nen in der Lage sind, mithilfe von störenden, aber friedlichen Aktionen weiter Aufmerksamkeit und Solidarität in der Bevölkerung zu sammeln und ihre Überzeugungen in der Gesellschaft so zu verankern, dass effektiver Druck auf politische Entscheidungen ausgeübt werden kann.

Alicia Mengelkamp, 25 Jahre, hat einen Bachelor in Soziologie und Politikwissenschaft. Sie studiert derzeit an der Uni Bielefeld im Master Organisationssoziologie und beschäftigt sich aktuell mit der Bewegungsforschung.

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Alicia Mengelkamp (25) hat einen Bachelor in Soziologie und Politikwissenschaft. Sie studiert derzeit an der Uni Bielefeld im Master Organisationssoziologie und beschäftigt sich aktuell mit der Bewegungsforschung.

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