Desinformation in Ungarn: „Die Wahrheit wird völlig verdreht“ 

In Ungarn gibt es russische Propaganda auf allen Kanälen. Der Oppositionsabgeordnete Márton Tompos macht die Regierung von Orbán dafür verantwortlich.

Zwei Demonstranten mit Masken von Orban und Putin

Russland soll durch die Propaganda als vertrauenswürdiger Verbündeter von Ungarn dargestellt werden Foto: IMAGO/Aleksander Kalka

taz: Herr Tompos, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine läuft nun seit fast einem Jahr. Als Abgeordneter im ungarischen Parlament beschäftigen Sie sich mit Medienpolitik und Desinformation. Wie präsent ist russische Propaganda in Ungarn?

Márton Tompos: Wahnsinnig stark, sie ist allgegenwärtig. Das Beunruhigende in Ungarn ist, dass russische Propaganda auch von den staatlichen Medien und der Regierungspartei Fidesz verbreitet wird. In anderen Ländern läuft es subtiler über soziale Medien. In Ungarn hingegen dringt die Propaganda flächendeckend in den öffentlichen Diskurs ein. Das Thema hat die Impfkritik abgelöst, bei der den Milliardären George Soros oder Bill Gates angedichtet wurde, uns alle mit Chips töten zu wollen. Nun verbreiten sich Fake News über Russlands Angriffskrieg.

Wo spielt sich das ab?

Die härtesten ungefilterten Lügen finden Sie in den sozialen Medien, vor allem auf Facebook. Das ist in Ungarn die wichtigste Plattform.

Wie muss ich mir die Desinformation konkret vorstellen?

Die Wahrheit wird völlig verdreht und die Menschen werden verunsichert. Ich denke da zum Beispiel an eine Fake-News-Meldung über Leichensäcke: Ein Video zeigte angeblich, wie Ukrainer ihren eigenen Tod inszenierten, um über „westliche Medien“ Sympathien zu gewinnen, aber der Wind wehte einen der Leichensäcke weg. Der „falsche Leichnam“, so die Propagandisten, zog sich den Sack selbst wieder an. In Wahrheit war das Ganze eine Aufnahme von einer Demonstration in Wien – ein völlig anderer Kontext. So perfide ist das.

Worauf zielt die Propaganda ab?

34, ist Gründungsmitglied der Oppositionspartei Momentum, seit April 2022 einer von 10 Abgeordneten der Partei im ungarischen Parlament.

Der ukrainische Freiheitskampf soll diskreditiert, die Sympathie für die Ukrainer verringert und Russland als vertrauenswürdiger Verbündeter gezeigt werden, anstelle der Europäischen Union, die sich angeblich immer in ungarische Angelegenheiten einmischt.

Das passt also zur Politik Orbáns.

Voll und ganz. Offiziell hat Orbán gegen Russlandsanktionen noch nie Veto eingelegt, auch wenn er sie offen kritisiert. Wenn er Brüssel, Straßburg oder Berlin besucht, weiß er, welches Gesicht er aufzusetzen hat. Aber innerhalb des Landes nutzt er ein anderes Narrativ. Da wird er ordinär, diffamiert den Liberalismus des Westens und kuschelt mit Russland.

Ungarn ist sehr stark von russischen Energielieferungen abhängig, handelte sich eine Ausnahme für das nun geltende Ölembargo der EU heraus und erneuerte Gaslieferverträge mit Russland. Geht es also vor allem um diese Abhängigkeit?

Der ist der direkteste Grund für Orbán: Um an der Macht zu bleiben, muss die Wirtschaft laufen. Dafür braucht es billige Energie. Die kommt, nach Orbáns Logik, nur von den Russen. Ein weiterer Grund: Orbán mag es nicht, eingeschränkt zu werden. Beziehungen zu Russland und China schaffen für ihn ein Gegengewicht zur EU, einen Trumpf, den er gegen Brüssel oder auch Washington ausspielen kann.

Im Streit zwischen Brüssel und Budapest haben die EU-Staaten Milliarden an Mitteln für Ungarn eingefroren. Es geht um Vorwürfe der Korruption und Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit. Orbán hat seinerseits EU-Hilfen für die Ukraine zeitweise blockiert und erklärte Ende Dezember, künftigen EU-Sanktionspaketen gegen Russland nicht zustimmen zu wollen.

Fidesz fährt in Ungarn regelrecht Kampagnen gegen die EU-Sanktionen gegen Russland. Sie müssen sich eins klarmachen: Die zentrale Nachrichtenagentur in Ungarn ist staatlich organisiert und inhaltlich auf Fidesz-Kurs. Sie ist Teil der Propagandamaschine. Wenn Sie beispielsweise ein Automechaniker in einer kleinen ungarischen Stadt sind, dann haben Sie vermutlich weniger Zeit, die Nachrichten im Internet zu lesen, wo es noch unabhängige Stimmen gibt, sondern Sie hören bei der Arbeit den ganzen Tag lokales Radio. Die einzige Quelle, von der dann stundenlang ihre Informationen stammen, sind die Berichte von der zentralen Nachrichtenagentur.

Wie läuft das im landesweiten Rundfunk? Können die Sender es sich leisten, russische Propaganda eins zu eins zu übernehmen?

Im landesweiten Fernsehen wird versucht, einen professionelleren Anschein zu wahren. Aber es gibt eine klare Parteinahme für Russland und die Propaganda funktioniert etwas subtiler über manipulative Muster, nach denen nachrichtliche Berichte aufgebaut sind.

Wie sieht das aus?

Mit dem Krieg in der Ukraine läuft es ähnlich wie mit jeder Kritik an Fidesz. Wenn ich Viktor Orbán kritisiere, nennen Sie mich im Fernsehen nicht direkt einen Lügner. Aber der ganze Bericht beginnt mit einer Stellungnahme Orbáns, dass die Kritik nur ein Versuch sei, ihn zu diskreditieren. Dann folgt die Meinung irgendeines sogenannten Experten, der ihn stützt, und erst dann wird der ursprüngliche Vorwurf überhaupt erwähnt. Bei Berichten über den Krieg ist es ganz ähnlich.

Kommt Propaganda auch direkt aus Russland?

Sie hat verschiedene Ursprünge. Es gibt einzelne prorussische Influencer, beispielsweise eine Frau, die in perfektem Ungarisch schreibt, aber in Sankt Petersburg lebt. Dann gibt es viele sogenannte nützliche Idioten, die Inhalte auf Facebook freiwillig verbreiten. Russische Geschichten werden so oft geteilt, dass andere Beiträge untergehen. Man kann Kampagnen bei bestimmten prorussischen Beiträgen ausmachen. Dafür werden auch Bots und Trollarmeen eingesetzt …

… also massenhaft gefälschte Profile auf sozialen Medien, die Themen verstärken, kritische Stimmen diskreditieren oder die Diskussion ganz zerstören. Putin setzt bezahlte Manipulatoren und automatisierte Bots seit Jahren ein, auch aktuell im Krieg gegen die Ukraine.

Orbán hat sich die Idee der Trollarmee übrigens auch selbst aus Russland abgeschaut.

Sie sprechen von Trollarmeen in Ungarn?

Ja. Es sind Fidesz-Anhänger, die das freiwillig machen. Sektenähnliche Jünger Orbáns. Die Diktatoren auf der ganzen Welt, Putin und Orbán, aber auch Erdoğan und Duterte, lernen voneinander, ihre Macht durch Propaganda zu verfestigen. Orbáns große Strategie ist es, den offenen Diskurs selbst zu verstören.

Wie ist das zu verstehen?

Die Menschen sollen nicht mehr nur davon überzeugt werden, dass etwa die Russen im Recht sind. Es geht darum, Chaos zu stiften. Und wenn man Chaos stiftet, können sich Verschwörungstheorien viel besser verbreiten.

Wie soll das Fidesz politisch helfen?

Wenn Chaos herrscht, gewinnt die stärkste Stimme. Und Fidesz hat die stärkste Stimme, weil die Partei nach dem lang geplanten Umbau der ungarischen Medienlandschaft mehr als 500 Medienkanäle kontrolliert. Also zerstören sie nun ganz grundsätzlich die Idee einer Überprüfbarkeit der Fakten, von Unabhängigkeit und Objektivität. Die Menschen sollen nicht mehr an den Austausch von Argumenten glauben können. Wenn ein großer Teil der Gesellschaft verunsichert ist, was überhaupt noch stimmt, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er Fidesz folgt, der starken Partei, die vermeintlich Licht ins Dunkel bringen.

Dieses Interview ist Teil des Projekts „Decoding the disinformation playbook of populism in Europe“, das von dem European Media and Information Fund unterstützt wird, der von der Calouste-Gulbenkian-Stiftung verwaltet wird.

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