Auswirkungen der Ein-Kind-Politik: Chinas Angst vor der Alterung

Erstmals seit 1961 ist Chinas Bevölkerung geschrumpft. Der demografische Wandel ist eine Bedrohung für den Aufstieg des Landes – mit weltweiten Folgen.

Eine Person fotografiert mit dem Handy

Der Nachwuchs wird weniger: Ein junger Chinese fotografiert auf der Straße in Peking Foto: Andy Wong/ap/dpa

BERLIN taz | Das Pekinger Statistikamt sorgte am Dienstagmorgen gleich doppelt für Aufsehen: Laut den jüngsten Wirtschaftszahlen ist Chinas Bruttoinlandsprodukt im Vorjahr nur um 3 Prozent gewachsen, womit die Regierung ihr selbst gestecktes Ziel von 5,5 Prozent deutlich verfehlte. Doch die schwächelnde Wirtschaft dürfte den Machthabern nur kurzfristige Kopfschmerzen bereiten, da eine sukzessive Erholung in den kommenden Quartalen als wahrscheinlich gilt. Grund für eine langfristige Migräne lieferte das Statistikamt allerdings ebenfalls.

Denn erstmals seit den Hungersnöten zu Beginn der 1960er ist Chinas Bevölkerung um Vorjahr geschrumpft – um satte 850.000 Personen. Ursprünglich hatten die Behörden erwartet, dass dieser folgenreiche „Wendepunkt“ frühestens gegen Ende Dekade erreicht würde. Doch die Geburtenrate ist unaufhaltsam weiter gesunken, derzeit befindet sie sich mit etwa 6,77 Neugeborenen auf 1000 Menschen auf einem historischen Rekordtief. Die Sterberate stieg hingegen deutlich auf einen Wert von 7,37.

Yi Fuxian, Wissenschaftler an der University of Wisconsin-Madison, spricht weiterhin von einer „krassen Unterschätzung“. Seine empirischen Studien legen nahe, dass die offiziellen Daten der Regierung geschönt sind und der demografische Wandel rasanter voranschreitet als angenommen. Die chinesische Bevölkerung würde sich laut seinen Berechnungen bereits seit 2018 im Schrumpfen befinden. „Chinas demografische und wirtschaftliche Aussichten sind viel düsterer als erwartet“, meint Yi.

Die Auswirkungen dürften auch im entfernten Europa zu spüren sein. Wenn etwa das herstellende Gewerbe in China – der Werkbank der Welt – aufgrund des drohenden Arbeitskräftemangels einbricht, wird dies die globalen Warenpreise und in weiterer Folge auch die Inflation befeuern.

Universitäten schließen, Arbeitskräfte fehlen

Vor allem aber ist die Alterung der Bevölkerung die größte Bedrohung für den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas – noch weit vor der Immobilienkrise oder dem Handelskrieg mit den USA. Wenn die Zahl der Rentner steigt und die der Arbeiter sinkt, bricht schließlich auch die wirtschaftliche Produktivität des Landes ein.

Nicht zuletzt werden die niedrigen Geburtenraten auch dazu führen, dass Universitäten schließen müssen, und die Wirtschaft schließlich an Innovation einbüßt.

Mit Migration wird China wohl kaum auf die sich abzeichnende Lücke reagieren. Dafür fehlt der Regierung, die vor allem um soziale Stabilität und ideologische Kontrolle besorgt ist, der politische Wille: Ausländer ins Land zu lassen, bedeutet schließlich auch, potenziell alternatives Gedankengut zu importieren.

Stattdessen tüfteln die führenden Forscher unter Hochdruck daran, technologische Lösungen zu finden. Doch ob mit Automatisierung und künstlicher Intelligenz die wirtschaftlichen Folgen des Arbeitskräftemangels abgefedert werden können, ist eine offene, riskante Wette.

Von der Ein-Kind-Politik zur Drei-Kind-Politik

Die Entwicklung der Geburtenraten ist nur im Hinblick auf Chinas kontroverse Ein-Kind-Politik zu verstehen, die von der kommunistischen Staatsführung Ende der 70er Jahre implementiert wurde. Die Maßnahmen mögen in der Theorie gut gemeint gewesen sein, denn man wollte durch einen staatlich regulierten Stopp des damaligen Bevölkerungswachstums drohende Hungersnöte vermeiden. In der Praxis jedoch sorgte die Ein-Kind-Politik vor allem für immenses Leid innerhalb der Familien – bis hin zu Zwangsabtreibungen.

Die Filmproduktionen sind wieder vermehrt mit klassischen Mütterrollen gespickt, alternative Lebensentwürfe für Frauenfiguren werden aus den Drehbüchern gelöscht

Gleichzeitig wirken die gesellschaftlichen Traumata bis heute nach: So gibt es aufgrund der selektiven Abtreibungen von Mädchen einen eklatanten Männerüberschuss.

Ebenfalls ist in der Volksrepublik eine Generation an Einzelkindern herangewachsen, denen ein Mangel an Empathie und sozialen Fähigkeiten durchaus anzumerken ist.

Ein Erwachsener spielt mit Kindern

Die Geburtenrate in China sinkt weiter, ein Vater mit Kindern in Peking Foto: Andy Wong/ap

Vor allem aber muss die Regierung nun realisieren, dass sie die Bevölkerungskurve nicht auf Knopfdruck nach ihren Vorstellungen steuern kann. Zwar dürfen Chinesen seit einigen Jahren wieder drei Kinder haben, doch nun wollen sie es schlicht nicht mehr. Die Gründe dafür sind komplex, haben aber vor allem mit den immensen Lebenskosten zu tun: Chinesische Mittelschichtsfamilien klagen über lange Arbeitszeiten, mangelnde Kindergärten und horrende Preise für Wohnraum sowie für den in China obligatorischen Nachhilfeunterricht.

Allgemeiner Wertewandel in China

Gleichzeitig hat die niedrige Geburtenrate auch mit einem allgemeinen Wertewandel zu tun. Insbesondere für junge, urbane Chinesinnen ist die berufliche und private Entfaltung mittlerweile wichtiger geworden im Vergleich zu den traditionellen Familienwerten. Dies reicht bis hin zu einer bewussten Verweigerung: Für die zunehmend populären feministischen Bewegungen ist das kinderlose Leben nämlich auch eine subversive politische Botschaft, sich der patriotischen Pflicht einer patriarchalen Regierung zu entziehen.

Der Staat reagiert nicht zuletzt mit Zensur und Propaganda. Die Filmproduktionen sind wieder vermehrt mit klassischen Mütterrollen gespickt, während alternative Lebensentwürfe für Frauenfiguren aus den Drehbüchern gelöscht werden.

Die tatsächlichen Ursachen des demografischen Wandels sind allerdings zu komplex, um das Problem über Nacht zu lösen: Damit Chinesinnen wieder mehr Kinder bekommen, müssen der massive Leistungsdruck in den Schulen gemindert, die Kindergärten-Infrastruktur ausgebaut und Immobilien bezahlbar werden. All dies sind bereits für sich genommen Mammutaufgaben.

Yi Fuxians Urteil fällt jedenfalls deutlich aus: Der in den USA ansässige Wissenschaftler hält Bevölkerungsrückgang für „unumkehrbar“.

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