Streetworker zu Silvesterrandalen in Berlin: „Aus Ohnmacht wird dann Macht“

Jugendliche randalieren, weil sie sozial ausgegrenzt werden, sagt Ralf Gilb von Outreach. Mehr Jugendarbeit, keine härteren Strafen, sei die Lösung.

Polizeibeamte in Neukölln stehen hinter explodierendem Feuerwerk.

Bambule gibt es meist da, wo es Armut gibt Foto: Julius-Christian Schreiner/dpa

taz: Herr Gilb, in der Silvesternacht ist viel gefeiert und geböllert worden, an einigen Orten kam es zu heftigen Attacken auf Polizei- und Rettungskräfte. Wie haben Sie die Nacht erlebt?

Ralf Gilb: Auseinandersetzungen mit der Polizei gibt es an Silvester ja schon seit Jahrzehnten, gerade auch in Neukölln. Aber ich muss schon sagen: Die Qualität hat in einigen Gegenden noch einmal zugenommen. Vor einigen Jahren wurden in der High-Deck-Siedlung, wo dieses Jahr auch ein Reisebus ausgebrannt ist, schon einmal Löschfahrzeuge beschossen. Aber das Ausmaß, in dem jetzt Rettungssanitäter und Feuerwehr attackiert wurden, das ist schon bedenklich. Dass gar kein Unterschied mehr gemacht wird, dass jede Uniform den Staat verkörpert, den es zu bekämpfen gilt.

Sagen Ihnen die Jugendlichen das so, dass sie den Staat bekämpfen wollen?

Natürlich nicht genau so. Das sind ja keine Autonomen, die politisch motivierte Taten begehen. In der Situation ist das Entscheidende der Spaß und eine gewisse Gruppendynamik. Aber wenn man fragt, was dahintersteckt, woher der Frust kommt, der zu Gewalt führt, dann kommt das schon heraus.

Die Videos der Ausschreitungen kommen überwiegend aus sozialen Brennpunkten in Neukölln. Welche Rolle spielt der soziale Hintergrund der Jugendlichen, die randaliert haben?

Es ist einfach so, dass die große Bambule meist in den abhängten Quartieren ist. Die Jugendlichen, die dort wohnen, sind von großer individueller und struktureller Benachteiligung betroffen. Es gibt da sehr viel Frust, Armut, Perspektivlosigkeit. Längst nicht nur unter den Jugendlichen. In der weißen Siedlung in Neukölln zum Beispiel, ich weiß da von alten Leuten, die leben im zehnten Stock, aber der Aufzug ist seit einem Vierteljahr kaputt. Es interessiert sich kein Mensch für diese Viertel. Bei den Jugendlichen kommt noch der Frust über die Pandemie dazu. Die Einschränkungen haben ja die Jugend am härtesten getroffen.

Ralf Gilb ist Geschäftsfürer bei Outreach, einem Träger für soziale Jugendarbeit. Seit 25 Jahren ist er Projektleiter im Bezirk Neukölln.

Was konkret erzählen denn die Jugendlichen, die Sie begleiten?

Viele sagen klar, dass sie es scheiße finden, wenn Sa­ni­tä­te­r:in­nen beschossen werden. Gegen die Polizei ist okay, aber gegen Rettungswägen ist blöd, so der Tenor. Wer dann aber wirklich dabei war, ist natürlich nochmal eine andere Frage. Der Gruppendynamik, die sich da entfaltet, schließen sich ja nicht nur migrantische Jugendliche an. An der Schillerpromenade zum Beispiel waren auch Hipster dabei.

Was ist diese Gruppendynamik, von der sie sprechen?

Im geschützten Raum der großen Gruppe kann sich der ganze angestaute Frust entladen. Da entwickelt sich eine Dynamik, die immer mehr Menschen teilnehmen lässt. Das Gefühl breitet sich aus: „Wir überlassen den Bullen nicht unser Quartier.“ Da, wo vorher Ohnmacht war, ist dann ein Gefühl von Macht. Dazu kommt dann noch das Phänomen der sozialen Medien: dass viele nur danebenstehen und filmen – aber auch nicht einschreiten. Es sind ja immer nur Einzelne, die wirklich einen Feuerlöscher schmeißen, ein Großteil der Jugendlichen macht so was nicht.

Von politisch rechter Seite war schnell klar: Das Problem sind migrantische Jugendliche.

Es ist ja nichts Neues, dass solche Vorfälle von rechts instrumentalisiert werden. Die Rechten verdrehen Ursache und Wirkung. Die Jugendlichen, die ja häufig wirklich einen Migrationshintergrund haben, sind ihr ganzes Leben von Rassismus betroffen. Viele haben schlechte Erfahrung mit einigen Beschäftigten der Polizei gemacht. In solchen Momenten entladen sich Ausgrenzungserfahrungen: mangelnde Chancen, mangelnde Teilhabe, das Gefühl, abgehängt zu sein. Das ist das eigentliche Problem – und eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Was sollte die Politik tun?

Es ist klar, dass wir das jetzt sagen, aber: mehr Jugendarbeit. In der Silvesternacht vor etwa 20 Jahren gab es schon einmal heftige Ausschreitungen in der Bürknerstraße. Mehrere hundert Fensterscheiben sind da eingeschossen worden. Damals gab es massive Polizeieinsätze im Nachklapp, Bürgerinitiativen haben sich gebildet, aber nichts hat was gebracht. Ganz am Ende hat das Jugendamt Neukölln die soziale Arbeit eingeschaltet. Durch gruppenorientierte Jugendsozialarbeit, zusammen mit der Community, konnten wir das Problem lösen. Ein Jahr später ist keine einzige Scheibe zerbrochen.

Was war Ihr Ansatz?

Wir haben uns genau angesehen, was da los war. Da gab es zum Beispiel eine Bank, wo sich die Jugendgruppen getroffen haben, die haben wir erst einmal entfernen lassen. Das war in der Situation wichtig, um das destruktive Gruppengefüge aufzubrechen, was sich da gebildet hatte. Im nächsten Schritt haben wir dann Kontakt zu den Eltern und der Nachbarschaft aufgenommen, sie informiert, was die Jugendlichen für einen Scheiß machen. In so einer Situation muss man die Community mit ins Boot nehmen. Unsere Kolleg:innen, die Eltern, die Nachbarschaft haben den Jungen dann klargemacht: So geht es nicht.

Die Lösung lautet also: Mehr Jugendarbeit?

Ja, ganz wichtig ist es, auch mit den Jungs selbst zu reden, sie anzuhören. Und ihnen klar zu sagen: „Stellt euch vor, dein Geschwisterkind schläft in der Wohnung, dann fliegt eine Rakete in das Zimmer und es brennt. Die Bude fackelt ab. Aber die Feuerwehr kommt nicht durch, weil Ihr den Krankenwagen beschießt. Fändet ihr das gut?“ Auf so etwas reagieren die Jugendlichen eigentlich sehr positiv.

Aber alle wird man so nicht von solchen Aktionen abhalten können, oder? Viele rufen jetzt nach Strafverschärfungen.

Wo Straftaten begangen werden, muss der Staat auch reagieren, auch um den Jugendlichen Grenzen aufzuzeigen. Das ist wichtig, gerade auch für geflüchtete Jugendliche, die noch nicht wissen, wo diese Grenzen liegen. Soziale Arbeit kann präventiv einiges bewirken, aber auch nie alles, das stimmt. Das bisherige Strafmaß reicht aber klar aus. Viel wichtiger ist, dass die Bestrafung auf dem Fuße folgen muss. Viele bauen Mist und landen dann sechs Monate oder ein Jahr später vor Gericht. Die wissen gar nicht mehr, für was sie eigentlich bestraft werden. Hier anzusetzen, wäre wesentlich hilfreicher.

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