Soziologin über Antiziganismus: „Wir werden nicht lockerlassen“

Wenn Sinti* und Roma* im Schulunterricht erwähnt werden, dann meist als Opfer des Völkermords, sagt Soziologin Patočková. Sie fordert ein Umdenken.

Menschen sitzen bei einer Gedenkveranstaltung in einer Reihe, hinter ihnen Transparente

Gedenken an die Verfolgung von Sinti* und Roma* im früheren KZ Bergen-Belsen, Oktober 1979 Foto: Friedrich Stark/imago

taz: Frau Patočková, die Kultusministerkonferenz hat im Dezember beschlossen, künftig die Geschichte und aktuelle Situation der Sin­ti* und Roma* im Unterricht vermitteln zu wollen. Sie haben die Empfehlungen mit verhandelt und als Vertreterin des Bündnisses für Solidarität mit den Sinti und Roma Europas unterschrieben. Was erhoffen Sie sich von diesem Beschluss?

Veronika Patočková: Ich hoffe, dass sich die Situation im Bildungswesen verbessert – und zwar sowohl für die Kinder und Jugendlichen aus den Communities der Sinti* und Roma* als auch für alle anderen. Es leben über eine halbe Million Roma* und Sinti* in Deutschland. Im Bildungswesen kommen sie aber kaum vor. Das muss sich ändern. Wir hoffen, dass der Beschluss ein erster Schritt dahin ist.

Was lernen Schü­le­r*in­nen in Deutschland momentan über Sin­ti* und Roma*?

Nicht viel. Zum Beispiel hat das Georg-Eckert-Institut für Schulbuchforschung letztes Jahr 197 Lehrpläne für Geschichte, Politik und Geografie aus allen Bundesländern untersucht und dabei herausgefunden, dass die Situation der Sinti* und Roma* und deren Diskriminierung heute in keinem dieser Pläne thematisiert wird. Im Rahmen der Studie hat das Institut außerdem 23 Schulbücher identifiziert, die noch immer das Z-Wort nutzen, und zwar ohne jegliche Kontextualisierung. Wenn Sinti* und Roma* überhaupt im Schulunterricht erwähnt werden, dann meist als Opfer des Völkermords oder es wird rassistisch geprägtes Wissen vermittelt. Bislang unterrichten Leh­re­r*in­nen hauptsächlich die Täterperspektive, die auch in vielen Schulbüchern eins zu eins übernommen wird.

Was heißt das konkret?

Ich nehme ein Lehrbuch für Gesamtschulen aus dem Jahr 2016 als Beispiel: Da steht, dass Sinti* und Roma* verfolgt wurden, weil sie keinen festen Wohnsitz hatten, etwas anders aussahen und mit ihren Familien als Handwerker, Händler oder Musiker von Ort zu Ort gezogen sind. So hätten die Nationalsozialisten ihre Minderwertigkeit erklärt. Und die zugehörige Aufgabe lautet: „Erläutere, warum die Na­tio­nalsozialisten Sinti und Roma ermordeten.“ Was sollen die Schü­le­r*in­nen antworten? Dass sie etwas anders aussahen und deshalb umgebracht wurden? Das ist doch falsch. Sinti* und Roma* haben über Jahrhunderte einen Beitrag zu Kultur und Politik hierzulande geleistet. Sie sind integraler Bestandteil der Gesellschaft. Dieser Perspektivwechsel muss auch in den Schulbüchern ankommen. Genau das will auch der Beschluss der Kultusministerkonferenz.

Trotzdem ist es ja wichtig, auch über die Verfolgung im Nationalsozialismus zu berichten.

Na klar ist es wichtig, die Verfolgung zu thematisieren. Es geht aber darum, wie man das tut. Kennen Sie zum Beispiel die polnische Romni Alfreda Noncia Markowska? Sie hat 50 Kinder aus Massenerschießungen und den Zügen nach Auschwitz gerettet. Über diese Heldin wird eigentlich nie gesprochen. Man muss auch Geschichten von Selbstbehauptung und Widerstand erzählen.

Wer dabei ist: Die „Gemeinsame Erklärung zur Vermittlung der Geschichte und Gegenwart von Sinti und Roma in der Schule“ hat die Kultusministerkonferenz zusammen mit dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma und dem Bündnis für Solidarität mit den Sinti und Roma Europas unterzeichnet.

Was drin steht: Schüler*innen sollen ein differenziertes Bild der Lebensrealitäten von Sinti* und Roma* vermittelt bekommen – unter anderem, indem sie mit Wissen über die Geschichte und die aktuelle Situation der Minderheit versorgt werden. Lehrer*innen sollen für Antiziganismus sensibilisiert werden.

Vorurteile gegenüber Sinti* und Roma* sind in Deutschland weit verbreitet. Laut der Leipziger Autoritarismusstudie 2022 liegt die Zustimmung zu antiziganistischen Aussagen auf hohem Niveau – bei mindestens 29 Prozent im Westen und mindestens 44 Prozent im Osten. (taz)

Der Schulalltag zeigt, dass es oft von den Lehrkräften abhängt, welche Themen sie behandeln – selbst wenn die im Lehrplan stehen. Wie aufgeschlossen waren Leh­re­r*in­nen gegenüber Ihrem Anliegen?

Unterschiedlich. Ich bin wissenschaftliche Co-Leiterin des Bildungsprogramms gegen Antiziganismus „Wir sind hier!“. In dessen Rahmen arbeiten wir auch mit Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften aus der Mehrheitsgesellschaft. Mein Eindruck ist, dass viele interessiert sind, zumal sie in ihrer Ausbildung gar nichts über Antiziganismus gelernt haben. Nur fehlen ihnen die Kapazitäten, sodass viele es auch jetzt nicht schaffen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Defizite gibt es nicht nur bei der Vermittlung von Wissen über Sin­ti* und Roma*, sondern auch bei ihren Bildungschancen, wie die RomnoKher-Studie ergibt. Nur etwa 10 Prozent der Sin­ti* und Roma*­ in Deutschland haben Abitur, bei der jüngeren Generation sind es 17 Prozent. Überdurchschnittlich viele gehen ohne Abschluss von der Schule. Was ist aus Ihrer Sicht nötig, um die Bildungsbeteiligung zu erhöhen?

Wir müssen drei Punkte angehen. Einerseits die mangelnde Repräsentanz: Für die Kinder ist die Schule ein Ort, an dem sie mit einem wichtigen Teil ihrer Identität unsichtbar bleiben oder abgewertet werden. Man hat keine Identifikationsfigur, keine Vorbilder, man lernt nicht über die eigene Geschichte und Kultur, fühlt sich also gar nicht gesehen. Außerdem fehlt es an Schutz vor Diskriminierung: Das Z-Wort wird in den Pausenhöfen weiterhin als gängige Beleidigung verwendet. In den meisten Fällen ist niemand da, der etwas dagegen unternimmt – kei­n*e Leh­re­r*in und auch kei­n*e Sozialarbeiter*in. Immer wieder damit konfrontiert zu werden, dass man keine Unterstützung bekommt, schwächt das Selbstwertgefühl.

Und der dritte Punkt?

Das ist der häufig unbewusste Rassismus von Lehrer*innen. Er äußert sich nicht unbedingt in Form einer direkten Abwertung. Da geht es auch darum, den Kindern nicht viel zuzutrauen. Wir wissen aus Studien, dass es eine sehr deutliche Korrelation gibt zwischen dem, was Lehrkräfte den Schü­le­r*in­nen zutrauen, und dem, was sie dann wirklich schaffen. Eine Entwicklung freut uns sehr: Bald will die KMK eine Empfehlung aufsetzen, die sich explizit dem Thema Antiziganismus an Schulen widmet. Das ist auch im aktuellen Beschluss festgehalten.

Die Große Koalition hat sich geweigert, junge Sinti* und Ro­ma* gezielt zu fördern. In anderen EU-Ländern ist das längst der Fall.

Eine gezielte Förderung wäre sicherlich sinnvoll. Ich selbst komme aus Tschechien, da gibt es seit 2010 jährlich rund 50 Stipendien für Schü­le­r*in­nen und rund 30 Stipendien für Studierende aus der Community. Die sind nicht hoch, reichen aber für Bücher und andere Dinge, die man für die Schule braucht. Allein schon das Gefühl, gesehen und unterstützt zu werden, macht einen ganz großen Unterschied. Durch die Stipendien entsteht zudem Vernetzung unter den Studierenden. Man spürt, dass man nicht allein ist.

hat den Verein RomaTrial e. V. mi tgegründet und ist wissenschaftliche Co-Leiterin von dessen Bildungsprogramm gegen Antiziganismus „Wird sind hier!“. Sie hat in Prag Soziologie und Übersetzungswissenschaften studiert.

Welche Maßnahmen der gezielten Förderung kann sich Deutschland noch aus anderen Ländern abschauen?

In Rumänien hat man Quoten von Studienplätzen festgesetzt, die für Studierende aus der Roma*-Community freigehalten werden. Ob das in Deutschland sinnvoll ist, darüber kann man sich streiten. Jedenfalls sind die Resultate in Rumänien sehr positiv. Andere gute Ergebnisse erzielen Mentoringprogramme. Die existieren teilweise auch in Deutschland. In Berlin ist die Arbeit der Schul­me­dia­to­r*in­nen erfolgreich und wichtig. Um Empowerment geht es auch bei den Workshops unseres Programms „Wir sind hier!“: Wir bilden junge Menschen zu Peer-Trainer*innen aus, die sich mit der Geschichte und Gegenwart von Sinti* und Roma*, aber auch Themen wie Sexismus, Queerfeindlichkeit oder Intersektionalität auseinandersetzen und lernen, anschließend selbst Workshops für andere junge Menschen zu geben.

Die Beschlüsse der Kultusministerkonferenz sind nicht bindend. Wie stellen Sie sicher, dass es nicht bei Absichtserklärungen bleibt?

Wir von der Selbstorganisation RomaTrial haben in unserer jahrelangen Arbeit die Erfahrung gemacht, dass es meist die Betroffenen selbst sind, die Sachen voranbringen – egal in welchem Bereich. Übrigens geht auch die neue Empfehlung der Kultusministerkonferenz auf ein Bündnis zurück, das wir zusammen mit der Stiftung Denkmal gegründet haben. Die KMK hat getan, was sie konnte. Jetzt sind die Bildungsministerien der Länder am Zug. Wir werden Kontakt zu ihnen aufnehmen, sie an die Vereinbarung erinnern und nicht lockerlassen.

Mit wie viel Offenheit rechnen Sie?

Klar, das Dokument ist rechtlich nicht verbindlich, aber es hat politisches Gewicht. Diese Karte müssen wir spielen. Die Kinder und Jugendlichen der Sinti* und Roma* müssen gleichberechtigt gebildet werden. Auf den Beschluss der KMK können wir uns berufen. Klar, es wird sich nicht in jeder Schule sofort etwas verändern. Dennoch ist die Erklärung ein Meilenstein: Auf der politischen Ebene ist der Perspektivwechsel hin zu Sinti* und Roma* als selbstbestimmter und selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft endlich gelungen.

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