Zukunft der Kirchen: Alerta, Gemeinde, alerta!

Seit 2022 sind die Mitglieder der Kirchen in Deutschland eine Minderheit. Fünf Themen, zu denen Chris­t*in­nen eine Haltung finden sollten.

Von oben in einer Kirche aufgenommen: in den Bänken sitzen nur vereinzelt Menschen

Zusammenrücken, wenn sich die Reihen leeren: Gottesdienst im Essener Dom 2021 Foto: Rudolf Wichert/KNA

Es ist so weit: Weniger als die Hälfte der Menschen in Deutschland sind Mitglied der katholischen oder evangelischen Kirche. Die 50-Prozent-Marke wurde im Frühjahr unterschritten. Erstmals seit Jahrhunderten sind die „Großkirchen“ damit eine Minderheit im Land. Zugegeben, eine Minderheit von immerhin noch 40 Millionen. Orthodoxe, Freichris­t:in­nen und andere nicht mitgezählt.

Bedeutungslos sind die Kirchen damit keineswegs. Auch unter denen, die ausgetreten oder gar nicht getauft sind, haben viele nach wie vor gewisse Erwartungen an die Kirchen. Am Ende des Jahres lohnt also ein Blick darauf, wie es 2022 so lief bei den Kirchen in Deutschland – und was im kommenden Jahr besser laufen kann.

Staatsleistungen

Auch 2022 haben die Bundesländer – Hamburg und Bremen ausgenommen – den beiden Großkirchen wieder mehr als eine halbe Milliarde Euro überwiesen. Diese Zahlungen sind nicht zu verwechseln mit der Kirchensteuer und auch nicht mit staatlichen Mitteln für kirchliche Schulen, Krankenhäuser und Kitas. Es ist Entschädigungsgeld für die Enteignung von Kirchenbesitz Anfang des 19. Jahrhunderts. Schon in der Weimarer Verfassung wurde das Ende dieser Leistungen festgeschrieben, ins Grundgesetz übernommen.

Nach über 100 Jahren geht die Ampel die Sache endlich an. Es ist gut, dass die Verfassung umgesetzt wird. Und gut auch, dass die Kirchen einsichtig sind. Allerdings wollen sie eine einmalige Ablöse. Zehn bis 11 Milliarden Euro sind im Gespräch. Der katholische Bischof Gregor Hanke hat recht, wenn er sich „für eine schnelle und einvernehmliche Lösung“ ausspricht. Recht hat er auch mit seiner Analyse: „Wenn die Kirchen jetzt pokern, stehen sie bei der rasant nachlassenden gesellschaftlichen Bedeutung der Kirchen am Ende ohne nennenswerte Ablöse da.“ Also: Im kommenden Jahr müssen Ergebnisse her. Denn die Gesellschaft könnte das Geld auch anderweitig gut gebrauchen.

Sexualisierte Gewalt

Wo wir gerade bei Zahlungen von der weltlichen an die geistliche Macht sind: Der katholische Kölner Bischof Rainer Maria Woelki bekommt 14.156,81 Euro im Monat vom Land NRW. Von dem Massenaustritt in seinem Erzbistum ist der mutmaßlich meineidige Oberhirte persönlich-finanziell also nicht betroffen. Woelkis Versagen bei der Aufklärung sexualisierter Gewalt spüren auch die örtlichen Pro­tes­tan­t:in­nen bei den Austritten. „Da wird die evangelische Kirche in Mithaftung genommen“, jammern die Rheinländer ein Stück weit zu Recht. Andererseits hat die evangelische Kirche ja selbst noch sehr viel in Sachen Aufarbeitung zu tun. Sie hinke der katholischen Kirche sogar noch hinterher, mahnte im August die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus.

Beeindruckt haben dagegen 2022 die Betroffenen damit, welche Schritte sie teils zu gehen bereit waren. Georg Menne und Andreas Perr zum Beispiel haben sexualisierte Gewalt durch katholische Priester erfahren. Die Fälle sind strafrechtlich verjährt. Mit ihren zivilrechtlichen Klagen haben Menne und Perr jedoch ein neues Kapitel im Kampf für Anerkennung aufgeschlagen, denn sie machen die Kirchen­obe­ren mitverantwortlich und fordern Schmerzensgeld.

Mennes Prozess gegen das Erzbistum Köln hat im Dezember begonnen. Perrs Fall wird vermutlich Ende März 2023 in Traunstein verhandelt werden. Mit auf der Anklagebank: Papst emeritus Benedikt XVI., der sich von der internationalen Großkanzlei Hogan Lovells vertreten lässt. Aber auch der Kläger steht nicht allein. Die Initiative Sauerteig aus Perrs Heimatort Garching bittet „jeden um seine, wenn auch noch so kleine Unterstützung, damit Andreas Perr sich nicht einschüchtern lassen braucht“. Auf initiative-sauerteig-garching.de kann man für den bestmöglichen Rechtsbeistand spenden. Auch das ist Kirche.

Kings, Queens, Christian Queers

„Wir alle waren schon immer Teil der Kirche und gestalten und prägen sie heute mit“, heißt es in dem Manifest von 125 queeren Mitarbeitenden der katholischen Kirche, die im Januar unter dem Schlagwort #OutInChurch an die Öffentlichkeit gingen. Auch 35 kirchliche Verbände unterstützten die Aktion. „Wir fordern eine Korrektur menschenfeindlicher lehramtlicher Aussagen“, hieß es in ihrem Statement. „Und wir fordern eine Änderung des diskriminierenden kirchlichen Arbeitsrechts.“

Eine Korrektur der katholischen Geschlechter- und Sexuallehre kam 2022 noch nicht. Dass die Mehrheit der Bischöfe einen entsprechenden Antrag ablehnte, brachte im September den Reformprozess des Synodalen Wegs fast zum Scheitern. Immerhin haben sie Vorschläge zur Neubewertung von Homosexualität und zur Teilhabe von Frauen an allen Ämtern in der Kirche angenommen.

Und: Ende November hat der Verband der Diözesen Deutschlands das katholische Arbeitsrecht reformiert. Homosexualität, Scheidung, Wiederheirat – aus solchen Privatangelegenheiten ihrer Mitarbeitenden wollen sich die Bistümer in Zukunft raushalten. Göttin sei Dank. Allerdings muss 2023 noch nachgebessert werden. Denn nicht nur die sexuelle, sondern auch die geschlechtliche Identität ist Privatsache und geht die Dienstherren nichts an.

Krieg und Klima

Von Beginn an waren viele Chris­t:in­nen in der Umwelt- und Klimabewegung engagiert und auch in der Friedensbewegung. Einerseits kann man Ende 2022 sagen: Die Kirchen sind zu unentschieden bei den großen Fragen des Jahres, ihre Stimme ist teils kaum hörbar. Mit Blick auf andere Länder kann man aber auch argumentieren: Wie gut, dass die Kirchenleitungen hier den Krieg nicht religiös verbrämen und die Klimakrise nicht leugnen. Wie gut, dass sie sich nur noch als Player unter anderen in der Demokratie verstehen. Wie gut, dass es Frie­dens­bi­schö­f:in­nen gibt, die diskutieren mit den Kolleg:innen, die für mehr ­militärisches Engagement eintreten. Für Geflüchtete setzen sich beide Seiten ein.

Wie gut, dass der Weltkirchenrat bei seiner Vollversammlung im September in Karlsruhe die russische Delegation neben der ukrainischen hat teilnehmen lassen. So musste sie die Verurteilung des russischen Angriffs als „illegal und nicht zu rechtfertigen“ miterleben. Außerdem verabschiedeten diese „UN des Christentums“ bei ihrer ersten Versammlung in Deutschland einen Appell zum Klimaschutz.

Die evangelische Kirche in Deutschland hat auf ihrer Synode im November sogar die Letzte Generation sprechen lassen und beschlossen, dass die Kirche politische Bemühungen um ein zeitnahes Tempolimit von höchstens 120 Stundenkilometern unterstützt. Kirchliche Mitarbeitende wurden aufgefordert, ab sofort das Tempo zu drosseln. Immerhin in dieser Sache war eine Kirche 2022 allen anderen voraus.

Angriff von rechts

Die Kirchen werden 2023 noch mehr Mitglieder verlieren, und zwar schneller, wie das nach einem Kipppunkt meistens so ist. Das ist okay. Denn im Schrumpfen liegt die Chance, authentischer und kreativer zu werden. Frei nach Jesus: Wer seine Privilegien erhalten will, wird verlieren, wer sie aber um meinetwillen verliert, der wird gewinnen.

Im Schrumpfen liegt aber auch das Risiko der kleinen, frommen Herde. Die weit rechte Minderheit in der Minderheit – darunter einige Adlige – wappnet sich konfessionsübergreifend für den Kampf gegen Geschlechtervielfalt, Einwanderung und Schwangerschaftsabbruch.

Linke, liberale und insbesondere konservative Chris­t:in­nen müssen darauf eine ebenso übergreifende Antwort geben, und zwar wissenschaftstreu und demokratisch.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.