Was Putin in der Ukraine will: Gegen eine slawische Demokratie

Warum hat Putin die Ukraine angegriffen? Sie ist ein freies, lebendiges, demokratisches Land – und das könnte die Russ*in­nen zum Nachdenken bringen.

Das Standbild einer Videokamera der ukrainischen Grenztruppen zeigt russische Armeefahrzeuge bei der Invasion vom 24. Februar

Eine ukrainische Überwachungskamera zeichnete am 24. Februar 2022 russische Armeefahrzeuge auf Foto: Border Service of Ukraine/ap

Die russische Armee ist erschöpft, aber nicht ausgeblutet. Diese Situation verheißt für die kommenden Monate nichts Gutes. Der Beschuss von ukrainischen Kraftwerken, Krankenhäusern und Schulen geht weiter, der militärisch-industrielle Komplex Russlands arbeitet auf Hochtouren. Die russische Wirtschaft ist, im Gegensatz zur ukrainischen, noch nicht in eine Kriegswirtschaft überführt worden. Das Niveau der Militarisierung ist immer noch deutlich niedriger als selbst in der Zeit der Stagnation unter Leonid Breschnew, der die UdSSR von 1964 bis 1982 führte.

Die Mobilisierungswellen von Wehrpflichtigen verschaffen den russischen Truppen keinen entscheidenden Vorteil. Der jetzige Krieg ist kein Krieg der Infanterie und der Panzer, sondern der Artillerie. Ungefähr 90 Prozent der Soldaten beider Seiten sterben, ohne dem Feind ein einziges Mal in die Augen zu schauen – durch Granaten und Raketen, seltener durch Minen. Die Pattsituation zeigt sich am besten auf dem Territorium der Ostukraine. Fast jeden Tag wird über schwere Kämpfe in der Region berichtet, aber im Wesentlichen gilt: „Im Donbass nichts Neues.“ Beide Seiten treten auf der Stelle – ein Ergebnis des Umstandes, dass sich die verfeindeten Kriegsparteien schon seit 2014 eingegraben haben.

Ein Erfolg für Putin

Ähnliches wird nun auch im Süden der Ukraine beobachtet. Dank westlicher Lieferungen von Himars-Raketenartillerie ist es der Ukraine gelungen, die zahlenmäßige Überlegenheit der Artillerie auf russischer Seite zu neutralisieren, aber die Ukrainer haben noch keine überwältigende Feuerdominanz. Daher ist die „Sonderoperation“ in der Ukraine trotz allem für Wladimir Putin bisher ein Erfolg.

Denn die Befreiung von Cherson war zwar ein lauter, aber eher symbolischer Sieg. Um im Donbass vorzudringen, Bunker zu zerstören und den Feind aus den Gräben zu vertreiben, braucht man vor allem Haubitzen, die mit einer schwenkbaren Flugbahn feuern. Wie die New York Times kürzlich berichtete, befindet sich ein Drittel der etwa 350 in die Ukraine gelieferten westlichen Haubitzen aufgrund extrem intensiver Nutzung oder im Kampf erlittener Schäden in einem nicht einsatzfähigen Zustand. Einige der verwendeten 155-mm-Geschosse wurden zuvor nicht mit bestimmten Haubitzen getestet. Deren Rohre scheinen schneller zu verschleißen als bisher angenommen.

Der Westen ist vorsichtig

Aber das Wichtigste ist, dass die ukrainische Armee die Infrastruktur der russischen Armee hinter der Kontaktlinie zerstören muss, um den befestigten Donbass und die Krim zügig zu befreien. Das heißt: Straßen, Brücken, Versorgungswege bombardieren und unbefahrbar machen, Leitungen unterbrechen und Kommunikationspunkte zerstören, Hauptquartiere, Treibstoff- und Munitionsdepots, Flugplätze, Reparaturwerkstätten, Radargeräte, Luftverteidigungssysteme, Militärfabriken und schließlich Installationen von Langstreckenraketen treffen. All das befindet sich vor allem auf dem Territorium der Russischen Föderation, oft im tiefen Hinterland, zum Teil auf Schiffen im Kaspischen Meer.

Die ukrainische Seite hat jedoch nicht genug geeignete Waffen dafür, sondern nur einige Drohnen. Bitten an die USA um ATACMS-Raketen mit einer Reichweite von 300 Kilometern blieben unbeantwortet. Darüber hinaus wurden laut Wall Street Journal die von der amerikanischen Seite an die Ukrai­ne übergebenen Himars-Systeme modifiziert, um es unmöglich zu machen, Langstreckenraketen mit ihnen abzufeuern, falls die Ukrainer diese aus einem anderen Land bekommen sollten.

Was die ukrainischen Angriffe auf die Krimbrücke, die russischen Militärflugplätze in den Regionen Rjasan und Saratow betrifft, so hat die Ukraine offensichtlich nicht die Waffen und die Munition, um diese Praxis wesentlich auszuweiten. Der Krieg zieht sich also hin, und Russlands Präsident Wladimir Putin hat bereits gesagt, dass „die militärische Spezialoperation“ zu einem langwierigen Prozess werden könne.

Putins Ziele missverstanden

Anfangs versuchte der Westen, insbesondere die Vereinigten Staaten, zwei Linien zu verfolgen, selbst nachdem sie erkannt hatten, dass die Ukraine dem ersten Schlag standgehalten hatte: erstens, die Eskalation des Konflikts zu verhindern, das heißt seine Ausweitung auf das Territorium Russlands. Zweitens, die „Syrianisierung“ des Krieges zu verhindern – also die Zerstörung der zivilen Infrastruktur, das Massensterben von ukrainischen Zivilisten und einen weiteren Flüchtlingsstrom in die Europäische Union.

Die aus diesen Überlegungen resultierende Begrenzung von Waffenlieferungen an die Ukraine hat zu der seltsamen Theorie Anlass gegeben, wonach es einigen „sehr einflussreichen Kräften“ im Westen zugutekäme, in aller Ruhe Öl ins Feuer des Krieges zu gießen.

Sowohl der Strategie des Westens als auch den antiwestlichen Verschwörungstheorien liegt ein Missverständnis von Putins Kriegszielen und eine Unterschätzung der – menschlichen und wirtschaftlichen – Opferbereitschaft der russischen Gesellschaft zugrunde. Die romantischen Interpreta­tio­nen von Putins Motiven sind bekannt – „die Wiederbelebung des Imperiums“ oder der UdSSR, die Sammlung der „russischen Welt“, die „Schaffung von Einflusssphären“, die Angst vor der Nato, Paranoia. Dieses Image unterstützt er selbst auch gern, um den Wähler in Russland und Politiker und Experten im Westen zu irritieren.

Die Ukraine soll zerstört werden

Dies führte unter anderem zu falschen militärischen Prognosen. Bis zum 23. Februar ließen sich viele von der Tatsache täuschen, dass die Inva­sions­truppe – 150.000 Menschen – eindeutig nicht ausreichen werde, um die Ukraine zu besetzen und verwalten. Viele dachten, dies seien Muskelspiele, Einschüchterungsversuche und eine Demonstration der Stärke.

Aber in Wirklichkeit war die Versklavung der gesamten Bevölkerung eines Landes mit 40 Millionen Einwohnern gar nicht geplant. Das Ziel war nicht, aus der Ukraine so etwas wie eine große russische Krim zu machen. Der Plan war, die Ukraine zugrunde zu richten, ihre „Donbassisierung“ zu arrangieren.

Die Aufgabe ist rein pragmatischer Natur: die Zerstörung eines Objekts mit Vergleichscharakter für die Untertanen des autoritären russischen Staates.

Viel näher an Stalin

Ein freies und einigermaßen lebendiges Land, in dem fast die Hälfte der Bevölkerung Russisch spricht, eine funktionierende ostslawische Demokratie – das ist ein Beispiel, das auch die Bür­ge­r*in­nen der Russischen Föderation zum Nachdenken bringen könnte. Und es ist ein Ort der Emigration für russische Oppositionelle, die von dort aus weiter den Kreml kritisieren. Diese Ukraine ist ein natürlicher Erzfeind für Putins Diktatur. 2014 wurde die Ukraine durch einen „Hybrid“-Angriff geschwächt. Jetzt wird versucht, das Land durch einen Zerstörungskrieg vollständig auszulöschen.

Zudem ist Putin psychologisch viel näher an Stalin als an Hitler, mit dem ihn einige Hitzköpfe jetzt gerne vergleichen. Putin ist kein rasender Fanatiker, er hat einen anderen inneren Kern, der sich durch Zynismus und blutrünstige Berechnung auszeichnet.

Eine politische Idee

Viele betrachteten den Invasionsplan vom Februar als Fehler: eine Offensive aus sechs operativen Richtungen; Zerstreuung der Kräfte; ein Schlag mit ausgestreckten Fingern; vor allem ein Marsch auf Kyjiw durch bewaldetes und sumpfiges Gelände.

Aber wie sonst wäre es möglich, alle drei Millionenstädte der Ukraine – Kyjiw, Charkiw, Odessa und mit ihnen eine Reihe regionaler Zentren – zu gefährden oder direkt zu beschießen?

Die Idee war nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich und politisch: die Ukraine zu schwächen und eine Flüchtlingswelle in die ­Europäische Union zu verursachen, ­wodurch diese Bastion der Demokratie destabilisiert und untergraben wird.

Nachdem Putin die Streitkräfte der Ukraine auf dem Schlachtfeld aber nicht hatte besiegen können, beschloss er, die Entvölkerung der Ukraine auf andere Weise zu erreichen – durch Raketenangriffe auf kritische Infrastruktur sowie Sabotage.

Putin profitiert von einem langen Krieg

Heute gibt es keine Oppositionsdemonstrationen in Moskau und St. Petersburg, und das ist vielleicht der wichtigste Erfolg des Regimes. Der Protest gegen Putin, der 2011 seinen Höhepunkt erreichte, wurde in den Folgejahren unter anderem mit Hilfe von außenpolitischen Aggressionsakten systematisch unterdrückt. Die russische Wirtschaft stagniert seit zehn Jahren, aber seine Unzufriedenheit trägt niemand auf die Straße.

Daher ist ein langwieriger Krieg in der Ukraine, wenn auch mit lokalen Niederlagen der russischen Armee, für das Putin-Regime vorteilhafter als selbst ein einfacher Waffenstillstand mit der aktuellen Frontlinie und, mehr noch, als ein Frieden nach der Formel „status quo ante bellum“ am 23. Februar 2022.

Das Hauptziel der „Sonderoperation“ ist zum einen, die Ukraine für Rus­s*in­nen unattraktiv zu machen, und zum anderen, dass die Ukraine mehr leidet als Russland. Dieser Zweck wurde bisher erreicht – Millionen haben das Land verlassen, der Russischen Föderation hingegen haben trotz der Sanktionen und Mobilisierungen seit dem 24. Februar nicht mehr als eine Million Menschen den Rücken gekehrt, und zwar vor allem die oppositionelle Schicht, was dem Kreml zupasskommt.

Der wirtschaftliche Rückgang in der Ukraine beträgt in diesem Jahr bis zu 35 Prozent, in Russland sind es etwa 15 Prozent. Die Machthaber des Kremls versuchen, aus der Ukraine eine verlassene Ruine zu machen.

Aus dem Russischen: Barbara Oertel

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