Chinas Coronapolitik: Null Covid oder Covid total

Erst macht Peking alles dicht. Jetzt ist ungeachtet der steigenden Infektionszahlen wieder alles komplett offen. Radikal – koste es, was es wolle.

Eine Frau mit Mundschutz und Winterkapuze

Eine Frau in Peking am 11. Dezember Foto: Andy Wong/ap

Dieser Tage geht es hoch her in China, allem Anschein nach entschlossen und effektiv: Wo vor Wochen Menschen gezwungen waren, in langen Schlangen vor PCR-Stationen zu stehen, um täglich mindestens einen Negativtest für jeden Schritt im öffentlichen Leben vorzulegen, bilden sich jetzt wieder lange Schlangen – nun vor Krankenhäusern, Sanitätsstationen oder leergekauften Apotheken. Die Zahl der Corona-Infektionen schießt in die Höhe.

Der Grund für das verwirrende Erscheinungsbild der chinesischen Großstädte ist offensichtlich: War die Regierung in Peking bisher entschlossen, jeglichen Ausbruch der Pandemie zu verhindern, koste es, was es wolle, ist dieselbe Regierung nun entschlossen, allen Ausbrüchen zum Trotz die sich zuspitzende Wirtschaftskrise abzufedern – koste es, was es wolle.

Die Entschlossenheit vorher bemaß sich daran, welches Wohnviertelmanagement oder Straßenkomitee gnadenloser die Leute zum PCR-Test trieb. Smartphone-Apps verfolgten jeden Schritt eines jeden, um jeden Verdächtigen jederzeit dingfest zu machen. Die Entschlossenheit nun bemisst sich am Gegenteil: Alle Verwaltungseinheiten sind angewiesen, niemanden mehr daran zu hindern, sich unters Volk zu mischen.

Alle QR-Codes – Gesundheitscode, Reisesicherheitscode, Zutrittscode zu öffentlichen Plätzen – sind verschwunden. Wer die Leute vorher nicht mit Entschlossenheit einsperrte, dessen Kopf rollte. Derselbe Kopf rollt, wenn er nun die „Freiheit“ nicht blindlings gewährt. Ganz anders als gestern reagiert heute auch das europäische Ausland. Vorher feierten etliche China-Enthusiasten die Entschlossenheit der KP-Führung, Chinesen so effektiv zu schützen.

Schwappt die Welle in den Westen?

China-Experten bemängelten die westlichen Demokratien, die einen effektiven Bevölkerungsschutz einfach nicht hinbekommen. Jetzt herrscht über die einstige Glanzbilanz Chinas vornehmes Schweigen. Zu Recht: Niemand weiß, wie schlimm die Infektionswellen in China werden, und auch nicht, ob, wie der Spiegel orakelt, diese Wellen in den Westen rüberschwappen. US-Experten schätzen, bis Ende März werde es in China bis zu einer Million Coronatote geben.

Die Ziffer eines schweren Krankheitsverlaufs lässt sich epidemiologisch einfach nicht ermitteln. Lange vor dem Horrorszenario, so einige Analysen, kann es dazu kommen, dass vulnerable Gesundheitsstrukturen vor allem in mittelgroßen und kleinen Städten kollabieren. Das würde zweifellos erneut in strikte Lockdowns mit offenem Ende münden.

Die Bedenken sind allzu berechtigt: Selbst eine Durchimpfung Hochbetagter und chronisch Kranker steckt in China noch in den Kinderschuhen. Die beiden chinesischen Impfstoffe sind gegen die meisten Varianten nahezu wirkungslos. Mittlerweile leiden auch Kinderhospitäler und ambulante Kliniken für ältere Menschen unter mangelnder medizinischer Ausrüstung. Dabei steht das Schlimmste noch bevor: Ende Januar ist das chinesische Frühlingsfest – eine Art Pendant zu Weihnachten hier.

Bis dahin werden täglich bis zu 250 Millionen Menschen unterwegs sein, in Bussen, Zügen und Flugzeugen, auch solche, die in alle Welt reisen. Zur Erinnerung: Am 23. Januar 2020, also genau vor drei Jahren, wurde die erste Megastadt, Wuhan, für über drei Monate in den Lockdown geschickt.

In China selbst ändert sich der Ton amtlicher Selbstdarstellung, die zuvor jedwede Maßnahme im Westen als „menschenverachtend“ verurteilte. Millionen Infektionen und Tote in den USA lieferten den besten Beweis für die unvergleichliche Überlegenheit des Sozialismus. Jetzt lautet der dezidierte KP-Slogan: Jeder ist selbst der beste Bürge für seine Gesundheit.

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ist 1957 in Peking geboren, lebt seit 1989 in Deutschland und arbeitet dort als freier Autor. In seinen Texten setzt er sich mit dem politischen Geschehen und der gesellschaftlichen Entwicklung in seiner Heimat auseinander.

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