Ein Jahr Ampel-Koalition: Die Kalküle des Kanzlers

Die Ampel hat auf den Angriffskrieg Wladimir Putins klug reagiert. Ihre Europapolitik ist jedoch ein Rückfall in rüden nationalen Egoismus.

eine Person steht mit Geburtstagshut auf der die Kerze abgeknickt ist und trötet vor einer Ampel

Ein Jahr Ampel-Koaliton im Bund – alles nicht so bunt hier Illustration: Katja Gendikova

Man kann ein Jahr Ampel-Regierung, ihre Erfolge und Fehler, in drei Bildern fixieren. Zweimal sehen wir Olaf Scholz, einmal Emmanuel Macron. Diese Szenen markieren mal Entschlossenheit und Weitblick, mal Kurzsichtigkeit und Egoismus. Den ersten Auftritt hat der Kanzler drei Tage nach Putins Überfall auf die Ukraine. Die Zeitenwende-Rede von Scholz war ein Coup. Selbst die SPD-Fraktion stand überrumpelt vor vollendeten Tatsachen.

Die Ansage war: Deutschland unterstützt die umfassendsten Sanktionen, die es je gab, liefert Waffen an Kiew und bricht mit dem Verbot, Waffen in Kriegsgebiete zu liefern. Und: Die Bundeswehr wird mit 100 Milliarden Euro aufgerüstet. Das war ein geschickter Schachzug. Noch drei Wochen zuvor hatte die SPD Nord Stream 2 sowie die Sonderbeziehungen zu Moskau eisern verteidigt. Paris und Washington bemängelten schon lange den schmalen deutschen Militäretat.

Außenpolitisch verschaffte die Zeitenwende-Rede das, was die Ampel unbedingt brauchte – Luft. Innenpolitisch deklarierten Scholz und FDP-Chef Christian Lindner die 100 Milliarden als Nebenhaushalt. Das war ein Taschenspielertrick – aber effektiv. Mit der wackeligen Behauptung, dieses Sondervermögen müsse unbedingt im Grundgesetz verankert werden, wozu es eine Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag brauchte, hievte man die Union mit ins Boot und rettete zudem den Frieden in der Koalition.

Die Aufrüstung der Bundeswehr aus den laufenden Haushalten zu zahlen, hätte zu einem Ringkampf mit Finanzminister Lindner geführt, dem die Schuldenbremse heilig ist. Die Gelder für Sozialreformen und Klimainvestitionen wären knapp geworden, die SPD-Linken rebellisch und die Grünen schlecht gelaunt. Das Urteil wird kritischer ausfallen, wenn die Reform des Beschaffungswesens misslingt und das Geld versickert.

Effektive Machtpolitik

Doch ohne die trickreiche Zeitenwende wäre die Regierung außen- und innenpolitisch bewegungsunfähig gewesen und vermutlich früh gescheitert. Die Zeitenwende ist ein Beispiel für effektive Machtpolitik. Sie zeigt, wie man sich aus einer defensiven, bedrängten Lage befreien kann: mit einem Überraschungsmoment und Risikobereitschaft, mit Tempo und einer gehörigen Prise Arroganz.

Ebenso überraschend wie die trommelwirbelhafte Zeitenwende war, was dann geschah: nicht so viel. Scholz hielt keine zackigen Kriegsreden, war bei Waffenlieferungen vorsichtig und betrieb das schlagzeilenarme Geschäft, „blockfreie“ Länder zu umwerben, die weder zum Westen noch zu der autoritären Achse Moskau–Peking gehören. Die Botschaft war: So viele Sanktionen und Di­plomatie wie möglich, so viel Militär und Waffen wie nötig. Alle Aufrufe, mehr schwere Waffen zu liefern, ließ der Kanzler an sich abperlen.

Die USA liefern die meisten Waffen

Im Rückblick erscheint dieser Streit unbedeutender, als viele glaubten. Das Gros der Waffen kommt aus den USA. Deutschland liefert Waffen, weniger als Großbritannien und viel mehr als Frankreich und Italien. Als Scholz im Spätsommer bei einem Fototermin seine Hand vertraulich auf einen Panzer legte, war das eine Art Schlussbild.

Das Kalkül des Kanzlers folgte einem innenpolitischen und einem außenpolitischen Motiv. Die Mehrheit der Deutschen ist nicht stramm für mehr Waffenlieferungen. Fast 70 Prozent der Deutschen sind gegen eine militärische Führungsrolle in Europa. Gegenüber dem Grünen Anton Hofreiter und CDU-Chef Friedrich Merz wirkte Scholz bedächtig und für Skeptiker vertrauenerweckend.

Hätte die Ampel unisono so geredet wie die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, wäre eine Repräsentationslücke entstanden. Der Streit der Ampel über Waffenlieferungen, der als Schwäche erschien, war im Grunde das Gegenteil: ein wirksames Mittel, den Widerstand gegen die Zumutungen der Sanktionen und das deutsche Engagement für die Ukraine einzuhegen.

Die militärische Zurückhaltung hatte auch eine außenpolitische Botschaft: Berlin meidet Alleingänge und spielt weiter die Rolle als Soft Power. Der 24. Februar hat Europa verwandelt. Die russische Bedrohung wird Osteuropa mehr an den Westen binden. Deutschland wird für Osteuropa wichtiger – und umgekehrt. Das kann die Tektonik der EU verändern. Berlin wächst durch die Mittellage Macht zu – eine Rolle, die im 20. Jahrhundert eine Bedingung der deutsche Katastrophengeschichte war.

Besondere Besonnenheit erforderlich

Deutschlands Rolle – zu klein, um Europa zu beherrschen, und zu groß, um ein Spieler unter anderen zu sein – erfordert besondere Besonnenheit. Die Vorsicht bei Waffenlieferungen, die in Osteuropa hart kritisiert wurde, sollte auch den Anschein vermeiden, dass Deutschland Europa wirtschaftlich, politisch, auch noch militärisch dominieren kann.

Aber das ist nicht das ganze Tableau. Das dritte Bild zeigt Emmanuel Macron im Oktober auf dem EU-Gipfel in Brüssel. Freundlich lächelnd kritisiert er, dass sich Deutschland in Europa isoliere. Das sei nicht gut. Die EU müsse erhalten bleiben „und Deutschland dazugehören“. Es passiert nicht oft, dass der französische Präsident – indirekt, aber doch deutlich – vor einem EU-Austritt Deutschlands warnt. Dexit? Wie das?

Im Koalitionsvertrag der Ampel kommt Europa fast auf jeder Seite vor. „Als größter Mitgliedstaat werden wir unsere besondere Verantwortung in einem dienenden Verständnis für die EU als Ganzes wahrnehmen“, heißt es dort feierlich. Die Realität sieht anders aus. Scholz hat im deutsch-französischen Verhältnis für einen Temperatursturz gesorgt. In seiner Europa-Rede in Prag wurde die Beziehung zu Paris mit keinem Wort erwähnt.

Manche EU-Staaten – auch Frankreich – wollen Schulden machen, um die Krise abzufedern. Scholz trat als Wiedergänger von Altkanzlerin Angela Merkel auf: Monsieur Non. Dann flog der Kanzler ohne Macron nach China. In der EU hörten viele die Botschaft: Deutschland first, Europa second. Die Liste ist noch länger.

Vorrang für nationale Wirtschaft

Das sind keine diplomatischen Ungeschicklichkeiten, die in Krisen halt passieren. Berlin setzt in der EU brachial eigene wirtschaftliche Interessen durch. Das Kalkül des Kanzlers, erst die deutsche Industrie, dann der Rest, erkennt man in Rom und Paris, in Warschau und Tallinn. Der Tropfen, der das Fass schließlich zum Überlaufen brachte, war der „Doppel-Wumms“, mit dem Scholz ohne jede Absprache in Brüssel und Paris die heimische Wählerschaft und Industrie beglückte.

Das 200-Milliarden-Paket sollte ein Befreiungsschlag sein – aus einer Falle, die die Ampel selbst mitgebaut hatte. Seit dem 24. Februar war absehbar, dass das russische Gas versiegen würde. Die Ampel vergeudete viel Zeit mit der Gas­umlage, um acht Monate später hektisch im nationalen Alleingang einen teuren Gaspreisdeckel zu präsentieren. Die Wut in Europa auf Berlin ist nachvollziehbar. Die EU-Kommission schlug im März gemeinsame Gasankäufe vor, Berlin winkte ab.

Und gegen Deutschland, die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, geht in der EU nichts. Der solvente Exportweltmeister Deutschland konnte sich dieses Nein leisten, weil er alle Konkurrenten auf der Jagd nach Gas überbieten kann. Dabei war Deutschland mit seiner extremen Abhängigkeit von russischem Gas ein wesentlicher Treiber der Krise. Das allein wäre ein ausreichender Grund gewesen, in der EU nicht so egoman aufzutreten.

All das ist kein Zufall, sondern Ergebnis des Wirtschaftsmodells Deutschland. Der Politikwissenschaftler Martin Höpner schreibt in einer scharfen Kritik des deutschen Exportnationalismus: „Eine gute Außenpolitik bedeutete für Deutschland: billige Energieversorgung sicherstellen (Russland); die Märkte für die deutschen Ausfuhren erschließen und offenhalten (China); dafür sorgen, dass das Ausland ohne Murren die eigenen Leistungsbilanz- und Sparüberschüsse absorbiert (weltweit).“

Enttäuschende Europapolitik

Dieses Modell ist wegen Russland und China nun in einer doppelten Krise. Um so vehementer scheint man die Exportweltmeisterschaft zu verteidigen. Dafür braucht die deutsche Industrie billiges Gas – und die Ampel zahlt. Wahrscheinlich stand keine deutsche Regierung seit Kohl 1989/90 unter derartigem Entscheidungsdruck wie die Ampel. Trotzdem: Die Europapolitik ist die größte Enttäuschung des ersten Ampeljahres. Auch weil man anderes erwarten konnte.

Die betont EU-freundlichen Grünen halten mit dem Außen – und Wirtschaftsministerium Schlüsselpositionen. Scholz hat als Finanzminister in Koproduktion mit Frankreich 2021 das viel gelobte 750-Milliarden-Euro Paket geschnürt, das man als Schritt zu einer EU-Finanzpolitik verstehen konnte. Doch für die Ampel gilt nun: Not kennt kein Gebot. In der Krise fällt Deutschland in schlechten Merkelismus zurück.

Merkel hat die EU oft benutzt, um kurzfristig deutsche Wirtschaftsinteressen durchzusetzen. Scholz bringt die deutsche Macht in der EU genauso rücksichtslos zur Geltung. Diese Arroganz kann sich rächen. Erinnert sei an die Hochnäsigkeit, mit der Deutschland 2011 Flüchtlinge auf dem Mittelmeer zu einem italienischen Problem erklärte – und im Flüchtlingsherbst 2015 bitter über den Mangel an Solidarität in der EU klagte.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Die Inszenierung der Zeitenwende war ein gekonnt improvisierter Reflex, der Verantwortungsbereitschaft signalisierte. Die Vorsicht bei Waffenlieferungen, die Skrupel beim Militärischen waren auch Gesten deutscher Machtbeschränkung. Das Management der Energiekrise wirkt wie das Gegenteil – hektisch, planlos und mit einer nationalistischen Textur. Dabei hat der russische Angriffskrieg doch gezeigt, wie fragil die globale Ordnung ist.

Und wie wichtig eine stabile EU ist, die global machtvoll für eine auf Recht basierte Weltordnung eintritt. So wirkt die Idee, dass Deutschland die neue Führungsmacht in der EU werden soll, für die SPD-Chef Lars Klingbeil wirbt, bestenfalls naiv, schlimmstenfalls gefährlich. Vielleicht ist sie nur Ausdruck der Verwirrung der SPD, die, nachdem sie sich profitable Deals mit Putin als Wandel durch Handel schöngeredet hat, verzweifelt nach neuen Ideen sucht.

Wenn die Ampel in Europa führen will, sollte sie das dialektisch angehen: Führen heißt dienen. Macht heißt in diesem Fall Machtverzicht. Wenn Deutschland der EU nutzen will, muss es seine aggressive ökonomische Politik aufgeben, die Interessen der deutschen Industrie kleiner und praktische Solidarität größer schreiben. Und damit wirklichen Fortschritt wagen.

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