Jürgen Dusel über Barrierefreiheit: „Kein Nice-to-have“

Jürgen Dusel ist Behindertenbeauftragter der Regierung. Ein Gespräch über Grenzen seines Amts, Expertise durch Erfahrung, Vorurteile und Bürokratie.

Ein Mann steht in einem Büro

Jürgen Dusel in seinem Büro in Berlin Foto: Piotr Pietrus

wochentaz: Herr Dusel, wünschen Sie sich manchmal mehr Macht?

Jürgen Dusel: Es reicht nicht aus, dass der Staat die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert und sagt, das gilt jetzt bei uns. Er muss dafür sorgen, dass diese Rechte auch bei den Menschen ankommen. Da würde ich schon gern mit ein bisschen mehr Power reingehen.

Am 3. Dezember ist Internationaler Tag der Menschen mit Behinderungen. Feiern Sie den oder ist es für Sie ein nerviges jährliches Ritual?

Es ist kein Ritual, aber das ist der Tag der Aktivist*innen. Da halte ich mich als jemand, der von der Bundesregierung eingesetzt wird, eher zurück.

Sie sind Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Ist Ihr Amt mit seiner begrenzten Macht eine Art Feigenblatt?

Das Feigenblatt könnte auch Ohrfeigen verteilen. Ich erlebe manchmal, dass Leute im parlamentarischen Verfahren oder in der Politik genervt sind von uns. Ich sehe aber das Amt als Möglichkeit, Einfluss auszuüben. Die Frage ist natürlich: Reicht das oder brauchen wir dafür mehr?

Sie werden zum Beispiel nur angehört, bevor neue Gesetze beschlossen werden, und haben dann kein Vetorecht.

Mir würde es schon reichen, wenn die Regierung unsere Position nicht nur anhören, sondern auch begründen müsste, warum sie die dann nicht übernimmt. Aktuell wird das Behindertengleichstellungsgesetz evaluiert, da geht es auch um die Stellung des Behindertenbeauftragten. Ich bin gespannt, was dabei herauskommt.

Müssten Sie nicht eigentlich Inklusionsbeauftragter sein?

Das ist so eine Tradition des Amtes, das es ja schon seit 1981 gibt. Aber klar, darüber kann man reden.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Glauben Sie, die Menschen da draußen wissen inzwischen, was Inklusion ist?

Vor zehn Jahren hatten die meisten Leute weniger Ahnung. Heute verbinden viele den Begriff mit dem gemeinsamen Lernen. Inklusion in der Schule ist wichtig, vor allem für die Kinder ohne Behinderung. Da kann ich ihnen Geschichten erzählen – ich war ja als fast blinder Mensch auf einer Regelschule. Aber für die meisten Menschen mit Behinderung spielt Inklusion in der Schule keine Rolle. Mehr als 90 Prozent erwerben ihre Behinderung erst nach der Schule.

Erzählen Sie von Ihrer Schulzeit.

Ich war erst in einer Grundschule für sehbehinderte Kinder. Und dann sollte ich weit weg auf die Blindenstudienanstalt in Marburg, weil es hieß, so ein Kind mit Sehbehinderung können wir den Leh­re­r*in­nen an der Regelschule nicht zumuten. Dafür gebe es doch die Förderschule: kleine Klassen, qualifizierte Leh­re­r*in­nen, und das Kind wird nicht gemobbt. Stimmt ja vielleicht auch. Aber ich wollte da nicht hin. Ich wollte nicht im Internat sein. Da geht es nicht nur um die Frage Förderschule ja oder nein, sondern auch darum, was wir den Kindern zumuten. Ich war dann auf einer Schule, auf der vor allem Menschen ohne Behinderung waren. Und das war für mich ein Segen.

Sie haben später Jura studiert. Wie haben Sie als nahezu blinder Mensch in der Schule und im Studium gelernt?

In der Schule gab es ein paar Verabredungen. Alles, was an die Tafel geschrieben wird, wird vorgelesen. Bestimmte Texte habe ich größer bekommen, ich konnte damals mit der Nase auf dem Papier noch etwas erkennen. Im Studium war es viel schlimmer: In der Bibliothek gab es noch Zettelkästen, in denen man suchen musste. Das ging für mich natürlich nicht. Ich habe viel Zeit in Vorlesungen zugebracht und ein sehr gutes Gedächtnis entwickelt. Aber: Es war wirklich hart. Wenn man als Mensch mit Behinderung nicht die Unterstützung bekommt, die man braucht, dann ist das wie eine Bergwanderung mit einem Rucksack, der zehn Kilo schwerer ist als bei den anderen. Deswegen ist es so wichtig, dass wir die Unterstützungsstrukturen stärken.

Die Person

Jürgen Dusel, Jahrgang 1965, ist Jurist und Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen.

Das macht ihm Angst

Oftmals als blinder Mensch und Fußgänger am Straßenverkehr teilzunehmen.

Das macht ihm Hoffnung

Dass sich Menschen weltweit für Werte wie Demokratie, Solidarität und Inklusion einsetzen.

Eigentlich sollte längst jede Schule in Deutschland inklusiv sein. Gehören Sonderschulen abgeschafft?

Langfristig ja, weil es richtig ist, dass Kinder mit und ohne Behinderung zusammen in die gleiche Schule gehen. Die Kinder mit Behinderung müssen aber ihren Mehrbedarf an Unterstützung bekommen, die Förderschulpädagogen müssen in die Regelschulen. Das fehlt in der Realität immer wieder, und dann fährt man das Thema Inklusion an die Wand. Dann fühlen sich die im Recht, die schon vorher gesagt haben, das klappt ja sowieso nicht mit dem gemeinsamen Lernen.

Schauen wir auf den Arbeitsbereich. Was haben Sie da bisher erreicht?

Viele Leute assoziieren mit dem Thema nur Menschen, die in den Werkstätten für behinderte Menschen arbeiten. Aber viel mehr arbeiten auf dem ersten Arbeitsmarkt. Deshalb war es für mich ein wichtiger Erfolg, dass wir in der letzten Legislatur für Menschen mit Schwerbehinderung, die Einkommenssteuer bezahlen, die Pauschbeträge verdoppelt haben.

Viele Unternehmen drücken sich ja davor, die gesetzlich vorgeschriebene Zahl an Beschäftigten mit Schwerbehinderung einzuhalten, und zahlen stattdessen lieber die sogenannte Ausgleichsabgabe.

Es kann nicht sein, dass ein Viertel aller beschäftigungspflichtigen Unternehmen keinen Menschen mit Schwerbehinderung beschäftigen. Was würde passieren, wenn in Deutschland ein Viertel aller Au­to­fah­re­r*in­nen sagen würde: „Für mich gilt die Straßenverkehrsordnung nicht“? Ich glaube, der Staat würde rea­gieren. Deswegen will ich, dass die Ausgleichsabgabe für diejenigen verdoppelt wird, die trotz Beschäftigungspflicht keinen Menschen mit Schwerbehinderung beschäftigen. Das steht auch im Koalitionsvertrag und bis Ende des Jahres soll es einen entsprechenden Referentenentwurf geben.

Warum stellen die Unternehmen denn nicht ein?

Da hören Sie die immer gleichen Vorurteile: Menschen mit Behinderung seien häufiger krank oder nicht so leistungsfähig. Das ist falsch. Und dann kommt doch wieder das gemeinsame Lernen ins Spiel. Die Leute, die mit mir Abi gemacht haben, die können sich konkret einen vorstellen, der nichts sieht, aber sein Abi schafft. Da waren Leute dabei, die später Personalverantwortung übernommen und Menschen mit Behinderungen eingestellt haben.

Es geht also nur um Vorurteile?

Wir müssen auch die Systeme vereinfachen. Wenn ein kleines Unternehmen jemanden mit Schwerbehinderung einstellen will, dann kann es sein, dass am Montag die Bundesagentur für Arbeit kommt, am Dienstag das Integrationsamt, am Mittwoch ein Integrationsfachdienst, am Donnerstag der Arbeitsschutz, und am Freitag sagt dann der Unternehmer, das ist mir zu kompliziert. Deswegen habe ich empfohlen, dass wir einen zuständigen Träger brauchen, der alle Leistungen aus einer Hand anbietet.

Sollten Werkstätten für Menschen mit Behinderung abgeschafft werden?

Noch nicht. Wir müssen die Position der Leute ernst nehmen, die von der Schließung der Werkstätten betroffen wären. Für viele ist das auch ein Ort sozialer Interaktion. Da melden sich wieder ganz viele zu Wort, die vermeintlich genau wissen, was gut ist für die Menschen dort. Das ist paternalistisch. Aber wir müssen auf jeden Fall über Reformen sprechen: Entlohnung, Transparenz, die Frage der Mitbestimmung.

Die Leute arbeiten für ein bis zwei Euro pro Stunde.

Das ist nicht wertschätzend und ich würde am liebsten auch sofort den Mindestlohn bezahlen. Ich möchte aber nicht, dass die Leute in der Folge ihre Rentenanwartschaften verlieren und sich ihre Situation insgesamt verschlechtert. Dann gibt man ihnen Steine statt Brot. Bis Mitte nächsten Jahres soll eine Studie zu dem Thema vorliegen, dann können wir konkret über Gesetze reden.

Frustriert es Sie manchmal, wie langsam alles vorangeht in Deutschland?

Wir sind schon sehr groß darin, Dinge kompliziert zu machen.

Da sticht dann der Denkmalschutz das Menschenrecht auf Teilhabe aus, und der barrierefreie Wohnungsbau scheitert an Kostenbedenken …

Barrierefreiheit ist kein Nice-to-have. Wir leben in einer alternden Gesellschaft und bauen Wohnungen mit Barrieren? Das ist unprofessionell. Barrierefrei zu bauen ist vielleicht 1 bis 2 Prozent teurer, das lässt sich betriebswirtschaftlich getrost vernachlässigen. Und volkswirtschaftlich ist es ohnehin viel günstiger, wenn die Leute länger in ihren Wohnungen bleiben können. Was mir wichtig ist: Barrierefreiheit brauchen wir nicht nur aus sozialen Gründen, sondern weil es unser Land moderner macht.

Was kann denn jede Einzelne tun, um inklusiver zu werden?

Zuerst mal die eigenen Vorstellungen über Menschen mit Behinderungen noch mal hinterfragen. Sind die wissensbasiert oder eher so was Gefühltes? Und dann: Begegnungen schaffen – gemeinsam lernen, zur Arbeit und in die Kneipe ­gehen. Dann klappt das mit dem inklusiven Fußabdruck.

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