Russischer Sender in Lettland: Sie machen es niemandem recht

Der unabhängige Sender Doschd zog nach Kriegsbeginn nach Riga. Nun verliert er die Lizenz – angeblich nahm er Russen zu sehr in Schutz.

Portrait Tichon Dsjadko

Der Chefredakteur entschuldigte sich für die Äußerung des Moderators über russische Soldaten Foto: Denis Kaminev/ap/picture alliance

MOSKAU taz | Es war am Ende einer Live-Sendung, es war ein Satz, der über den Sender ging, der Verständnis für die Lage russischer Zwangsmobilisierter ausdrückte, und der diesem Sender nun den Garaus macht. Die lettischen Behörden entziehen dem unabhängigen russischen TV-Online-Kanal Doschd (Regen) die Sendelizenz.

Ab 8. Dezember dürfen die Jour­na­lis­t*in­nen ihre Beiträge nicht mehr über Kabel verbreiten. Damit verliert Doschd nicht nur an Reputation, sondern auch Werbeeinnahmen. Zudem prüft Lettland die Blockierung des Kanals bei YouTube.

Doschd gefährde die Sicherheit Lettlands, sagte Ivars Abolins, der Vorsitzende des lettischen Nationalen Rates für elektronische Massenmedien, und fügte hinzu, der Doschd-Leitung sei die Schwere ihrer Verstöße nicht bewusst. Der lettische Verteidigungsminister Artis Pabriks riet den Journalist*innen, doch nach Russland zurückzukehren.

Das sind harsche Aussagen, die die Tragik des liberalen russischen Journalismus aufzeigen; die zeigen, unter welchem Druck die Me­di­en­ma­che­r*in­nen stehen, die Empathie für ihr Land und dessen Menschen empfinden und gleichzeitig so viel Ekel. Die einer Schwarz-Weiß-Sicht differenziert zu begegnen versuchen und sich doch nicht gegen die Radikalität wenden können, die der Krieg und seine Folgen mit sich bringen.

Frecher Sender in Pink

Doch zunächst einmal dazu, was zu dem Wirbel um den kleinen, frechen Sender in Pink (und seit Kurzem in Regenbogenfarben) geführt hat, der nach dem russischen Einfall in die Ukraine den Sendebetrieb in Moskau einstellen musste und seit dem Sommer aus Riga sendet. Hierher waren die meisten Doschd-Journalist*innen aus Georgien, Deutschland, der Türkei und all den Ländern gekommen, in die sie im März gegangen waren, weil sie nur aus dem Exil heraus die Möglichkeit gewahrt sahen, ihre Arbeit weiterzuführen.

Die lettische Regierung hieß sie willkommen, sah in ihnen eine wunderbare Möglichkeit, der russischen Gesellschaft Informationen ohne Propaganda zukommen zu lassen. Die Vorsicht und die Geringschätzung allem Russischen gegenüber, die viele Let­t*in­nen aufgrund der leidvollen Erfahrung ihres Landes mit der sowjetischen Okkupation verspüren, übergingen die Doschd-Macher*innen offenbar leichtfertig.

Trotz aller Schwierigkeiten, die eine Berichterstattung über ein Land mit sich bringt, ohne sich selbst in diesem Land zu befinden, konterkarierte der Sender staatliche russische Propaganda.

Die Jour­na­lis­t*in­nen führen Interviews mit ukrainischen Expert*innen, aber auch mit russischen, sie berichten über mutmaßliche russische Kriegsverbrechen und weisen auf das Chaos bei der russischen Armee hin. Und dann sagt der Moderator Alexej Korosteljow, seit 2014 bei dem Sender, mit Blick auf die russischen Sol­da­t*in­nen diesen Satz: „Wir hoffen, dass auch wir den vielen Militärangehörigen helfen konnten, zum Beispiel mit Ausrüstung und elementarem Komfort an der Front.“

Es sind Worte, denen selbst beim Sender Entsetzen folgte. Der Chefredakteur Tichon Dsjadko entschuldigte sich öffentlich für den „Fehler, der in Zeiten eines Krieges unverzeihlich ist“. Nie habe Doschd russischen Soldaten geholfen. Der Sender entließ Korosteljow, aus Protest gegen diese Entscheidung waren ihm noch drei weitere Mit­ar­bei­te­r*in­nen gefolgt.

In Lettland, der Ukraine und auch bei manchen russischen Oppositionellen im Exil sorgen Korosteljows Worte für einen Sturm der Entrüstung. Doschd unterstütze die russische Aggression, schreiben aufgebrachte Nut­ze­r*in­nen sozialer Netzwerke. Die Jour­na­lis­t*in­nen tarnten sich lediglich als liberal und unabhängig, seien aber im Dienste des Kremls unterwegs und im Grunde ihres Herzens Im­pe­ria­lis­t*in­nen, wie ohnehin alle Russ*innen.

Die emotional vorgetragenen Vorwürfe übergehen in ihrem Kern die Arbeit der Doschd-Journalist*innen, die seit dem Maidan in Kyjiw klar und deutlich Position für die Ukraine beziehen und dafür mehrfach von russischen Behörden attackiert worden sind – bis hin zur Einstellung ihres Programms in Russland im März dieses Jahres.

Sender machte stets das, was andere mieden

Seit ihrer Gründung 2010 wollten die Doschd-Macher*innen nie das sein, was offizielle Stellen von ihnen verlangten. Der Sender machte stets das, was andere russische Sender mieden: Die Jour­na­lis­t*in­nen begleiteten Straßenproteste direkt aus der Menge der Demontrant*innen, sie verbrachten Stunden im Gericht, wenn der Staat wieder einmal ein politisches Urteil fällen ließ, sie prangern bis heute offen das System Putin an.

Dutzende von ihnen hat der russische Staat als „ausländische Agenten“ gebrandmarkt, für die sogenannte Diskreditierung der russischen Armee drohen den Jour­na­lis­t*in­nen in ihrem Heimatland jahrelange Haftstrafen.

Mit Schwierigkeiten können die „Regentropfen“, wie sie sich zuweilen selbst nennen, umgehen. 2014 hatten alle russischen Kabelanbieter den Sender nach einem Skandal wegen einer Umfrage zur Befreiung von Leningrad aus ihrem Programm genommen. Der Vermieter kündigte die Räume im Zentrum Moskaus, Doschd zog kurzentschlossen in die Wohnung der Sendergründerin Natalja Sindejewa und bestritt das Programm aus deren Küche und Bad.

Sie verloren Zu­schaue­r*in­nen und Geld, den Mut aber verloren sie nie. Auch nicht, als sie vor neun Monaten ihre neuen Räumlichkeiten in einer alten Kristallfabrik räumen mussten und von einem Tag auf den anderen Russland verließen. Die wichtigsten Mo­de­ra­to­r*in­nen sendeten in Streams aus ihrem Übergangszuhause außerhalb Russlands.

Die Zu­schaue­r*in­nen dankten es ihnen und sind nun bestürzt über die Entscheidung der lettischen Behörden. „Es lebe Doschd, uns dürstet es nach ungefärbten Informationen“, schrei­ben sie in den sozialen Netzwerken. Kol­le­g*in­nen – viele von ihnen sind ebenfalls im Exil – loben Doschd für seine Professionalität. Russlands Pro­pa­gan­dis­t*in­nen indes höhnen und fordern die „Verräter“ auf, nach Russland zurückzukehren und Reue zu zeigen.

Der Kremlsprecher Dmitri Peskow kommentierte die Entscheidung der Let­t*in­nen als Beispiel, das den „Trugschluss“ demonstriere, woanders sei „mehr Freiheit als zu Hause“. Ob die Doschd-Journalist*innen ihre Aufenthaltsbewilligungen für Lettland behalten dürfen, steht noch aus. Sie bezeichnen den Entzug der Lizenz als „absurd“ und senden über YouTube weiter. Vorerst.

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