Nachruf auf Chinas Ex-Präsident Jiang: Der unterschätzte Reformer

Mit 96 Jahren ist Chinas ehemaliger Staatspräsident Jiang Zemin gestorben. Sein Tod kommt für die Parteiführung zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt.

Jiang Zemin mit Cowboy-Hut

Ob Cha-Cha-Cha beim Staatsbesuch oder mit Cowboy-Hut: Jiang Zemin in Kanada im Jahr 2017 Foto: Reuters

PEKING taz | Zu Lebzeiten wurde der kleingewachsene Mann mit der riesigen Hornbrille und dem verschmitztem Lächeln oftmals belächelt. Doch posthum wird er zweifelsohne als kluger Wirtschaftsreformer in die Geschichtsbücher eingehen: Jiang Zemin, Chinas Staatspräsident von 1993 bis 2003, ist mit 96 Jahren in Shanghai am Mittwoch an den Folgen seiner Leukämie-Erkrankung verstorben. Als „herausragender Führer des Sozialismus chinesischer Prägung“ wird er in einem Nachruf der Nachrichtenagentur Xinhua gepriesen.

Viele chinesische Zeitungen haben ihre Onlinepräsenz unlängst in trauerndes Grau gehüllt, und das Volk hat millionenfach seine Beileidsbekundungen auf den sozialen Medien geteilt. „Er repräsentierte für mich die sorgenfreie Zeit meiner Kindheit“, schreibt eine Chinesin auf Wechat. Ein anderer User kommentiert lakonisch: „Der Senior ist von uns gegangen. Wir werden ihn vermissen“.

Doch die Trauer des Volkes dürfte innerhalb des chinesischen Staatsapparats durchaus für Nervosität sorgen. Denn 1989 mündete die Trauer bei Pekinger Studenten um den verstorbenen, liberalen Generalsekretär Hu Yaobang, in die Protestbewegung vom Tiananmen-Platz. Nun, über drei Jahrzehnte später, ist der amtierende Präsident Xi Jinping erneut mit historischen Protesten konfrontiert, welche er mit Einschüchterungskampagnen und Polizeipräsenz niederschlagen ließ. Gegen die Corona-Lockdowns und für mehr politische Freiheiten hatten seit dem Wochenende zahlreiche Menschen protestiert.

Könnte Jiangs Tod die Jugend nun wieder auf die Straße holen? „Es besteht kein Zweifel, dass dies den Staat und die Partei sehr besorgt“, kommentiert William Hurst, Professor in Cambridge, auf seinem Twitter-Account. Doch dass sich die Ereignisse von 1989 wiederholen würden, daran glaubt der Akademiker nicht: „Viele junge Chinesen wissen teilweise nicht viel über die eigene Geschichte“.

Reformen, aber wenige Korruptionsbekämpfung

Nur vier Jahre nach der blutigen Niederschlagung der Tiananmen-Bewegung wurde Jiang ins Präsidentenamt befördert. Damals wurde der aus einfachen Verhältnissen stammende Parteikader, dem der Ruf eines Bürokraten vorauseilte, vor allem als Kompromisslösung betrachtet.

Jiang Zemin hat während seiner zehnjährigen Amtszeit ein höchst ambivalentes Erbe hinterlassen. So ließ er die Falun-Gong-Sekte mit äußerster Brutalität niederschlagen. Auch gegen die grassierende Korruption innerhalb der Parteiführung tat er wenig.

Gleichzeitig jedoch sorgte er mit seinen ökonomischen Reformen dafür, dass China der Anschluss an die Weltwirtschaft gelang – und in dessen Folge einen rasanten Wachstumskurs hinlegte. Grundlage dafür war, dass die Volksrepublik der Welthandelsorganisation beitrat.

Für viele junge Chinesen wird der im ostchinesischen Jiangsu geborene Jiang vor allem für eine legendäre Pressekonferenz in Erinnerung bleiben, die der damalige Staatspräsident im Jahr 2000 in Hongkong gab. Als eine junge Reporterin eine überaus kritische Frage stellte, sprang der 1,74 Meter große Jiang erratisch aus seinem roten Sessel – und wechselte unverhofft in sein brüchiges Englisch: „Ihr Medien müsst noch mehr lernen! Die Fragen, die Sie stellen, sind zu einfach, manchmal naiv!“

Er stellte sich offen journalistischen Fragen

Was damals als arrogante Belehrung eines chinesischen Parteivorsitzenden mokiert wurde, sorgt zwei Jahrzehnte später innerhalb der Millennial-Generation für große Bewunderung: Ein Präsident, der sich offen den Fragen der Journalisten stellt, ungefiltert seine authentischen Gefühle zeigt und sich nahbar wie fehlbar gibt: All das scheint angesichts von Xi Jinping nicht nur undenkbar, sondern regelrecht wie von einem anderen Planeten.

Und in der Tat hat sich Jiang nie gut mit dem derzeitigen Staatschef verstanden. Zu unterschiedlich waren sie in ihren Persönlichkeiten: Jiang tanzte schon mal Cha-Cha-Cha mit dem philippinischen Präsidenten, stimmte vor Reportern Lieder von Elvis Presley an oder ließ sich vom legendären US-Fernsehjournalisten Mike Wallace interviewen. In jener 60-minütigen TV-Sendung zitierte Jiang Zemin voller Bewunderung die Gettysburgh-Rede von Abraham Lincoln: „Alle Menschen sind gleich erschaffen.“ Auch das wäre heutzutage nicht annähernd im Bereich des Vorstellbaren.

Wenn viele Chinesen nun also das Gefühl haben, dass eine Ära zu Ende geht, erklärt dies die melancholische Nostalgie für einen ehemaligen Präsidenten, der während seiner Amtszeit selbst nicht sonderlich beliebt war – im Rückblick hingegen erscheint er als gar keine so schlechte Wahl.

Vor allem tat er, was Xi Jinping in diesem Herbst verweigert hat: Auf dem Höhepunkt seiner Macht räumte Jiang Zemin nach zehn Jahren Präsidentschaft seinen Sessel.

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