Debatte um das Renteneintrittsalter: Lasst die Boomer in Rente gehen

Niemand sollte dazu gezwungen sein, das Renteneintrittsalter zu verschieben. Viel sinnvoller ist, Zugewanderten den Weg ins Berufsleben zu ebnen.

Wanderschuhe auf einer Wiese.

Nur noch Wandern und auf der Wiese liegen, für manche Rent­ne­r:in­nen soll das erst mit 67 möglich sein? Foto: Gaby Wojciech/imago

Da ist er wieder, der Ruf nach einem späteren Renteneintrittsalter. Aktuell sieht Alexander Gunkel vom Bundesvorstand der Rentenversicherung (RV) und dort zuständig für die Arbeitgeberseite dunkle Zeiten herannahen. In ein paar Jahren gehen die meisten der sogenannten Boomer in Rente und es wird mehr Ren­te­r:in­nen als Bei­trags­zah­le­r:in­nen geben.

Mit seiner Furcht vor dem Zusammenbruch des Rentensystems, wie wir es heute kennen, ist Gunkel nicht allein. Auch Arbeitgeber-Präsident Rainer Dulger sieht das Rentensystem „vor dem Kollaps“. Und was fordern beide? Klar, ein höheres Renteneintrittsalter. Es dürfe nicht sein, dass „die weiter wachsende Lebenserwartung zu einem immer noch längeren Ruhestand“ führe, findet Dulger. Gunkel möchte, dass die Menschen nicht schon mit 67 Jahren, sondern später in Rente gehen.

Schon länger fordern Arbeitgeberverbände die Rente mit 70. Diese Forderung ist so alt wie vermessen. In den vergangenen Jahrzehnten ist die Altersgrenze für die „Boomer“ und all jene, die ab 1964 geboren worden sind, bereits auf 67 angehoben worden. Nur wer von ihnen mindestens 45 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt hat, kann problemlos früher in Rente gehen, in der Regel ab 63 Jahren.

Wer es nur auf 35 Einzahlungsjahre bringt, darf zwar auch schon mit 63 Jahren aus dem Job ausscheiden, muss dafür aber mit empfindlichen Abschlägen bei der Rente rechnen. Die machen bei manchen 40 Prozent aus. Die Zahl derer, die das in Kauf nimmt, ist leicht gestiegen, vor allem bei den Frauen. Die Gründe sind bekannt: starke gesundheitliche Einschränkungen bei körperlich und seelisch besonders anstrengenden Berufen vor allem im Bau und in der Pflege.

Migration statt späterem Renteneinstieg

Hinzu kommt eine Altersdiskriminierung bei Frauen, egal in welcher Branche. Trotzdem liegt das durchschnittliche Renteneintrittsalter aktuell bei 64 Jahren. Was aber tun, wenn in den kommenden fünfzehn Jahren weitere 13 Millionen Arbeitskräfte fehlen? Schon jetzt klagt nahezu jede Branche über einen Fach- und Arbeitskräftemangel. Eine noch längere Arbeitspflicht kann aber nicht die Antwort sein.

Es sind ja schon vor allem die Boomer, die gewährleisten, dass vielerorts medizinische und Sozialeinrichtungen, den Einzelhandel, Handwerksbetriebe aufrechterhalten. Die ihr Leben lang vor allem Vollzeit gearbeitet haben – und das auch richtig fanden. Was also tun? Eine Vollzeitarbeitspflicht für Jüngere und Mütter selbst mit kleinen Kindern einführen? Den gesetzlichen Urlaubsanspruch kürzen? Vätermonate streichen? Teilzeit, Sabbaticals, Gleitzeit verbieten?

Gunkel richtet seinen Blick auf eine verstärkte Migration. Das ist der richtige Ansatz – theoretisch – in der Realität aber leider nur selten umgesetzt. Denn anstatt Mi­gran­t:in­nen leicht die Möglichkeit einzuräumen, in den Berufen zu arbeiten, die sie in ihren Herkunftsländern gelernt haben, sind die meist dazu verdammt, nichts zu tun. Viele medizinische, pädagogische, technische Abschlüsse werden hier kaum anerkannt, die Hürden für eine Einstellung sind hoch.

Viel zu hohe Hürden

Bei vielen scheitert es an einer Arbeitserlaubnis. Mit­ar­bei­te­r:in­nen in Geflüchtetenunterkünften wissen schon nicht mehr, was sie den sehr arbeitswilligen Frauen und Männern antworten sollen, wenn sie sagen: Ich habe studiert, ich spreche neben meiner eigenen Sprache fließend Englisch und Französisch, ich lerne gerade Deutsch, warum darf ich nicht arbeiten?

Ich möchte meinen Lebensunterhalt selbst verdienen und nicht auf Sozialgelder angewiesen sein. Mittlerweile gibt es eine Reihe von Fällen, in denen junge afrikanische Männer beispielsweise in Bäckereien arbeiten und dort sogar eine Ausbildung machen, denen aber die Arbeitserlaubnis entzogen wird, weil sie ihre Identität nicht zweifelsfrei nachweisen können. Statt zu arbeiten, langweilen sie sich.

So ähnlich ergeht es selbst Menschen aus Europa. Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Beschäftigten aus einem der neuen EU-Mitgliedsländer im Vergleich zum Vorjahr um 1,6 Prozent gestiegen. Gleichzeitig hat die Zahl von Hartz-IV-Empfänger:innen aus diesen Ländern um 5,7 Prozent zugenommen. Es mag sein, dass die Ausbildung mancher Geflüchteter nicht dem deutschen Standard entspricht.

Was aber spricht dagegen, ihnen dabei zu helfen, diesen zu erlangen? Bevor viele sich erneut auf die Schulbank setzen, würden sie gern irgendwo arbeiten, auch ohne Ausbildung. Warum dürfen sie das nicht? Die Europäische Kommission hat längst Vorschläge für eine geordnete Arbeitsmigration vorgelegt: europaweite sogenannte Talentpools, Punktesysteme, Austausch zwischen den Ländern.

Unabhängig davon wissen Ar­beit­ge­be­r:in­nen selbst am besten, wen sie brauchen und wen sie wollen. Warum erschwert man ihre Suche durch eine überbordende Bürokratie? Und nebenbei bemerkt: Nichts fördert eine Integration von Zugewanderten und Geflüchteten mehr als ein Job und Selbstständigkeit in Zufluchtsland.

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Ressortleiterin Meinung. Zuvor Ressortleiterin taz.de / Regie, Gender-Redakteurin der taz und stellvertretende Ressortleiterin taz-Inland. Dazwischen Chefredakteurin der Wochenzeitung "Der Freitag". Amtierende Vize-DDR-Meisterin im Rennrodeln der Sportjournalist:innen. Autorin zahlreicher Bücher, zuletzt: "Und er wird es immer wieder tun" über Partnerschaftsgewalt.

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