Ende von Hartz IV: Bundestag beschließt Bürgergeld

Nach scharfer Debatte passiert die Neuregelung des Arbeitslosengelds das Parlament. Das Gesetz dürfte allerdings im Bundesrat stecken bleiben.

Arbeitsminister Heil im Bundestag.

Kann erst mal zufrieden sein: Arbeitsminister Heil bei der Abstimmung zum Bürgergeld im Bundestag Foto: Michael Kappeler/dpa

BERLIN taz | Der Bundestag hat am Donnerstag das Bürgergeld mit der Mehrheit von SPD, Grünen und FDP beschlossen. Union und AfD stimmten gegen das Gesetz, die Linke enthielt sich bei der Abstimmung.

Doch ob das Bürgergeld tatsächlich kommt und die Regelsätze wie geplant ab Januar steigen, bleibt ungewiss. Denn dass der Bundesrat in seiner Sondersitzung am kommenden Montag den Plänen der Ampel zustimmt, ist unwahrscheinlich. Die von der Union mitregierten Länder werden das Bürgergeld mit ihrer Mehrheit im Bundesrat wohl blockieren. Selbst in der SPD geht man mittlerweile davon aus, dass man sich im Vermittlungsausschuss wiedertrifft.

In der turbulenten und von vielen Zwischenrufen unterbrochenen Bundestagsdebatte am Donnerstag gaben sich die Po­li­ti­ke­r:in­nen der Ampel-Parteien und die Union gegenseitig die Schuld. Der zuständige SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil bezeichnete das Bürgergeld als die größte Sozialstaatreform seit 20 Jahren. Das Ziel sei nicht nur, Menschen in Not unbürokratisch abzusichern, sondern auch ihnen die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben in Arbeit zu geben. Zwei Drittel der Langzeitarbeitslosen hätten keinen Berufsabschluss. „Mit dem Bürgergeld schaffen wir die Chance, dass Menschen nicht in Hilfstätigkeiten vermittelt werden müssen, sondern einen Berufsabschluss nachholen können.“

Man habe viele Änderungsanträge auch von Unionsländern übernommen, so Heil. „Unsere Hand ist ausgestreckt.“ Falls es am Montag noch keine Mehrheit im Bundesrat gebe, rufe die Regierung den Vermittlungsausschuss an. „Dann haben wir die Gelegenheit, in einem schnellen Verfahren dafür zu sorgen, dass das Bürgergeld am 1. Januar in Kraft tritt“, so Heil optimistisch.

53 Euro mehr pro Monat

CDU-Chef und Unionsfraktionsvorsitzender Friedrich Merz trat am Donnerstag nicht ans Rednerpult, sondern ließ dem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Hermann Gröhe den Vortritt. Ein für Merz ungewöhnlicher Akt der Bescheidenheit. Gröhe warf der Regierungskoalition vor, sie wische Kritik weg und sei ideologisch verbohrt. Die Ampel verweigere jede sachliche Debatte über die grundsätzlichen Fehler des Gesetzentwurfs. „Mit dieser Arroganz werden sie im Bundesrat scheitern“, prophezeite Gröhe.

Mit dem Bürgergeld will die von der SPD geführte Ampelkoalition das viel kritisierte Hartz-IV-System hinter sich lassen. Der Schwerpunkt soll künftig mehr auf dem Fördern statt dem Fordern liegen. Menschen sollen mehr Zeit haben, sich auf Jobsuche und Weiterbildung zu konzentrieren. Die Jobcenter übernehmen deshalb bis zu zwei Jahren die Miete oder Raten für die Wohnung in jeder Höhe. Rücklagen und Vermögen von bis zu 60.000 Euro für Alleinstehende und 30.000 Euro für jedes weitere Haushaltsmitglied müssen in diesen ersten beiden Jahren nicht aufgezehrt werden.

Diese Grenzen gelten bereits, die damalige Große Koalition aus Union und SPD führte sie während der Coronapandemie ein. Die Ampel will sie beibehalten. Heil sagte, dies sei eine Frage des Respekts vor Lebensleistung.

Die Sanktionen sollen etwas gelockert werden, vor allem in den ersten sechs Monaten, nachdem sich der oder die Arbeitslose mit dem Jobcenter auf einen Kooperationsplan geeinigt hat. In dieser Zeit kann er oder sie Jobangebote ablehnen, ohne Leistungskürzungen zu befürchten. Allerdings werden versäumte Termine weiterhin geahndet. Derzeit sind nur drei Prozent der Be­zi­ehe­r:in­nen von solchen Kürzungen betroffen.

Harte Kritik an Merz

Der Regelsatz soll ab Januar um 53 Euro auf 502 Euro erhöht werden. Das Bürgergeld setzt zudem mehr Anreize für Weiterbildungen, etwa mit Zuschlägen, und schafft bessere Hinzuverdienstmöglichkeiten insbesondere für Schüler, Studierende und Azubis. Ein Punkt, der besonders der FDP wichtig war. „Von 800 dürfen junge Menschen nun 604 Euro behalten, das verändert etwas in den Köpfen“, so der Sprecher der FDP für das Bürgergeld Jens Teutrine.

Die Union kritisiert insbesondere die aus ihrer Sicht zu hohen Schonvermögen und die teilweise Abschaffung der Sanktionen. Arbeit würde sich damit nicht mehr lohnen, so das zentrale Argument. Unionsfraktionschef Friedrich Merz hatte vergangene Woche vorgeschlagen, nur die Erhöhung der Regelsätze zu beschließen und den Rest auf später zu verschieben. Diesen Vorschlag weist die Ampel zurück. Wenn die Union wochenlang beklage, Arbeit lohne sich nicht mehr, und jetzt nur den Regelsatz erhöhen wolle, „dann ist da ein gewisser logischer Bruch“, so Heil.

Der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP Johannes Vogel legt noch einen drauf. Er warf der Union „alternative Fakten vor“ und Unionsfraktionschef Friedrich Merz die Verbreitung von Fake News. „Es stimmt einfach nicht, dass sich Arbeit nicht mehr lohnen würde. Es gibt keinen Fall, dass jemand, der arbeitet, weniger hat als jemand, der nicht arbeitet“, so Vogel. Auch die Behauptung, mit dem Bürgergeld werde eine „sechsmonatige sanktionsfreie Zeit eingeführt, stimmt einfach nicht.“ Es sei absurd, nur die Regelsätze zu erhöhen, ohne für mehr Leistungsgerechtigkeit und Aufstiegschancen zu sorgen.

Die Fraktionsvorsitzende der Grünen Britta Haßelmann warf dem CDU-Chef fehlende Empathie vor. „Wie soll jemand, der in einer anderen Lebenswirklichkeit lebt und sich überlegt, ob er zur Party mit dem Privatjet fliegt, sich in die Lebenwirklichkeit einer alleinerziehenden Mutter einfühlen?“ Merz schüre Sozialneid.

Linke wirft Union Schmierentheater vor

Landesministerinnen der Union aus Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein haben in einem Eckpunktepapier von Ende Oktober eigene Kritikpunkte formuliert. Sie kritisieren ebenfalls die ihrer Ansicht nach zu hohen Vermögen, die Bür­ger­geld­be­zie­he­r:in­nen behalten dürfen, die unbegrenzte Übernahme der Wohnkosten während der ersten zwei Jahre und den teilweisen Verzicht auf Sanktionen in den ersten sechs Monaten.

Die Unionsländer sehen die Ampel hier zu lasch. „Die sechsmonatige Vertrauenszeit sowie der unverbindliche Kooperationsplan stellen eine Abkehr vom Prinzip des ‚Förderns und Forderns‘ dar und sind abzulehnen“, heißt es in dem Papier. Einige Kritikpunkte haben die Ampelparteien indes schon aufgegriffen. So werden Heizkosten nur noch in „angemessener“ Höhe erstattet.

Auch Die Linke warf der Union Schmierentheater vor. Milliardenvermögen würden geschützt, Schonvermögen von Menschen, die lebenslang gearbeitet haben, aber als zu hoch kritisiert, so Linken Fraktionschef Dietmar Bartsch. Das Bürgergeld sei zwar ein Fortschritt, aber im Kern sei es nicht mal im Ansatz armutsfest. Die Linke fordert eine Erhöhung der Sätze um 200 Euro. „Das Bürgergeld ist zu wenig für ein Leben in Würde und eine neue Waschmaschine“, so Bartsch. „In der Substanz ist es Hartz V.“

Zu Beginn der Sitzung gedachte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas des am Mittwoch verstorbenen ehemaligen DDR-Bürgerrechtlers und späteren Grünen-Abgeordneten Werner Schulz. Der Bundestag erhob sich für eine Schweigeminute.

Aktualisiert am 10.11.2022 um 14:35 Uhr. d. R.

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