Lyriker über seine Herkunft: „So hat man den Turm höher gebaut“

Dinçer Güçyeter ist Gabelstaplerfahrer – und Lyriker. 2022 erhält er den Peter-Huchel-Preis. Ein Gespräch über die Suche nach der eigenen Sprache.

Ein Mann in roter Jacke steht vor dem Abendhimmel

„Du hast es verdient“, sagte Dincer Gücyeters Frau, als sie hörte, dass ihr Mann den Peter Huchel-Preis bekommt

Dinçer Güçyeter wartet am Bahnhof von Boisheim, von dort weiter nach Lobberich zu kommen wäre nur mit dem Bus möglich: viel zu kompliziert. Niederrhein, die Landschaft flach, das Leben rege, viele Autos auf den Straßen, die Autobahn, ob sie zur holländischen Grenze führt oder nach Duisburg und Köln, ist immer wie ein grummeliges Summen zu hören. Dinçer Güçyeter lebt hier, in Lobberich, einem Stadtteil des Ortes Nettetal, er hat nie dauerhaft woanders gelebt. Berlin, Köln, München, Hamburg? „Ich bin hiergeblieben, immer, ich wollte es nicht anders.“ Und führt durch seinen Ort. An einer schmalen Durchgangsstraße steht eine Fabrik, Metallverarbeitung, geschlossen, hier arbeiteten Tausende, bis das Werk dicht machte. Sogenannte Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen, seit den frühen sechziger Jahren.

wochentaz: Was denken Sie, Herr Güçyeter, wenn Sie diese Fabrik sehen?

Dinçer Güçyeter: Dass sich hier alles um diese kleine Welt dreht.

Die Welt der Fabrik, der Schichten, der Feierabende.

Für mich war das ein großes Problem, denn ich wusste ja, dass noch Millionen andere Sachen im Leben existieren. Für viele Frauen und Männer, die damals in der Fabrik gearbeitet haben, war es ein Weltuntergang, als sie in Rente gingen, das war immer mehr als ein Abschied von den Maschinen.

Sie wollten, dass es für Sie anders läuft.

Jedenfalls hat es mich traurig gestimmt. Es gab in mir immer den Wunsch, hier nicht hängen zu bleiben. Du musst raus. Du musst auch die anderen Welten kennenlernen. Diese Maschine darf dein Leben nicht dominieren.

Die Welt Ihrer Eltern.

Aus deren Perspektive war es anders. Ein junger Mann ist aus Anatolien aus der Armut gekommen, so mein Vater, und hatte zum ersten Mal in seinem Leben Möglichkeiten als Arbeiter. Der wurde ernst genommen. Und das ist dann wie so eine Art Kostüm, eine Uniform. Heute nennt man es Status, früher Uniform. Und auf einmal dieses Kostüm also vom Leib zu entfernen, mit der Rente, mit der Schließung der Fabrik, das war für viele eine Tragödie.

Der Autor und Verleger

2011 gründete Dinçer Güçyeter den Elif Verlag; er hat etliche Bücher, darunter Lyrik, herausgegeben. Für „Mein Prinz, ich bin das Ghetto“ wurde er mit dem Peter-Huchel-Preis für deutschsprachige Lyrik ausgezeichnet. Jüngst erschien sein erster Roman: „Unser Deutschlandmärchen“. Am 1. Dezember um 20 Uhr liest er in der Buchhandlung Ocelot in Berlin.

Der Familienmensch

1979 in Nettetal, Ortsteil Lobberich geboren. Beruf: Feinmechaniker, manchmal noch tätig als Gabelstaplerfahrer. Güçyeter ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Sie haben selbst eine Ausbildung in der Fabrik gemacht, oder?

Ja, ich wollte unbedingt selbst Geld verdienen, um meinen Eltern nicht mehr auf der Tasche zu liegen, selbst etwas zum Familieneinkommen beitragen.

Lief es für Sie in der Schule?

Ich war zuerst auf der Realschule. Drei Monate. Und, nein, es lief nicht gut. Zwei Wochen habe ich geheult und dann meinen Vater gebeten, mich da rauszuholen. Und er hat es getan. Eines Morgens kam er mit, er hat mich abgemeldet und bei der Hauptschule angemeldet. An dem Tag war ich der glücklichste Mensch.

Warum?

Alle meine Freunde waren auf der Hauptschule. Ich war der Einzige, der nicht mehr bei ihnen war. Ich fühlte mich wie in einem anderen Land, verlassen. Meine Mutter war strenger, sie war dagegen, dass ich die Realschule verlasse. Sie war stolz, dass ihr Sohn auf der Realschule war. Aber irgendwann hat mein Vater gesagt, das Kind geht da kaputt, so geht es nicht weiter.

Sind Sie in der Hauptschule nicht in die Fußstapfen Ihrer Eltern getreten?

So scheint es, aber es waren meine Schritte. Nach der Schule stand ich vor dem Betrieb, aus dem ich meine Mutter immer abholte, und bewarb mich dort. Ich wollte sehen, wie es drinnen zugeht. Die Geschichten dort haben mich interessiert, brennend, ich war neugierig auf alles, was dort passiert.

Über Geschichten kam die Literatur in Ihr Leben?

Sie kam nicht, sie war immer da. In mir. In der Sprache, in ihre Klängen, in ihren Färbungen, in allem, was Sprache sagt. Mein Vater las immer schon. Nazim Hikmet, einen kommunistischen türkischen Dichter. Und die Dichter, die übersetzt waren, Balzac, Dostojewski, Tolstoi. Mir schenkte er früh Comic-Hefte. So hat es angefangen.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Wie ging es in dieser Hinsicht weiter?

Zuerst habe ich nicht die Bücher gelesen, die mein Vater mir nahebringen wollte, das kam viel später, da entdeckte ich erst, was für ein kostbarer Schatz das war. Ich ging selbst auf die Suche, ich musste es. Mein erstes Buch war Hermann Hesses „Unterm Rad“. In der Stadtbibliothek fand ich dann aber viel mehr, die deutschen Übersetzungen von Dostojewski, von Tolstoi. Die holte ich mir alle. Als ich endlich mein eigenes Geld verdienen konnte, bin ich nach Köln gereist, nach Düsseldorf und habe Buchhandlungen besucht. Dort fand ich, was ich wollte.

Durch Empfehlungen?

Nein, ich war in diesen Buchhandlungen eher schüchtern. Ich habe einfach Bücher aus den Regalen genommen und die Klappentexte gelesen. Was mir gefiel, kaufte ich. Und das waren Bücher, die mich heute noch begleiten. Tennessee Williams, Else Lasker-Schüler, Klaus Mann, Wolfgang Borchert. Und Tschechow liebe ich seither, seine Sensibilität, besonders in den Dialogen fürs Theater. So fing meine Reise an.

Wie ging sie weiter?

Es gab eine Zeit, in der mich die Literatur aus Frankreich sehr interessiert hat, aber auch das französische Kino. So hat man immer den Turm höher gebaut.

Der Spaziergang führt an einem See vorbei. Dinçer Güçyeter zeigt auf ein rot angestrichenes Haus: „Das war die Kneipe meines Vaters.“ Er selbst hat seine Kindheit in diesem Gasthaus verbracht, zugehört, unbehelligt. Er weist auf ein Fenster in der zweiten Etage: „Da war das Badezimmer, da guckte ich auf den See, abends, stundenlang, und dachte, gleich müsste er aufsteigen aus dem Wasser, ein Drache, der fliegen wird.“

Sie sagten, in der Realschule sei nicht Ihr Platz gewesen. War es denn möglich, Ihre Themen mit Ihren Kumpels zu bereden?

Nein. Es wurde über das gesprochen, was in der Bravo steht, später über Titten, über Muschis, über was man als Jugendlicher so redet. Ich fand in der Literatur meinen Ort. Mit ihr fing eine andere Fremde an. Diese Gespräche der Kumpels über Hormone und so, die fand ich irgendwann öde, das hat mich damals nicht interessiert. Alles, was mich beschäftigte, alle Figuren, mit denen ich kommunizieren wollte, die waren in diesen Texten versteckt. Sexualität fing bei mir erst viel später an, wie alle anderen Dinge – die Romane von Henry Miller könnten da auch einen Einfluss gehabt haben.

Hat Sie dies alles von Ihren Kumpels, von Ihrer Familie entfremdet?

Ja, das auch, aber nicht nur. Ich war ihnen nie so fern, dass ich nichts mehr mit ihnen zu tun haben wollte. Die haben mich anerkannt. Von meinen Kollegen und Kolleginnen waren viele bei meiner Lesung hier in der Stadtbibliothek dabei – und es machte mich glücklich, dass sie auch ein bisschen stolz auf mich waren.

Ihre Lyrik, auch Ihr erster Roman „Unser Deutschlandmärchen“ ist wie ein Feuerwerk an Geschichten.

Das sind Geschichten aus dem Leben. Sachen, die mich beeinflusst, die meine Jahre begleitet haben. Frauen spielen eine große Rolle, die Frauen meiner Familie, die im Hof zusammenkommen und sich Geschichten erzählen. Ganz banal, ganz einfach. Am Wochenende kamen alle zusammen, redeten, erzählten, besonders, wie gesagt, die Frauen. Wenn sie unter sich waren – und ich heimlich zuhören konnte –, merkte ich, dass sie sich ziemlich robust über die Geschlechtsteile ihrer Männer austauschten. Das war und ist das wahre Leben: Geschichten zu erzählen, weiter zu berichten. Und ich wollte sie immer alle hören.

Ihre Oma spielte eine besonders große Rolle.

Auch sie war eine versteckte Schreibschule. Ich habe das vielleicht nicht in dem Moment gemerkt, aber später. Früher mussten mein Bruder und ich mit ihr ein Zimmer teilen. Wir mussten immer mit, durften nicht länger als sie aufbleiben. Dann hat sie eine halbe Stunde lang erzählt. Über ihre Mutter, über ihren Vater, über Armut, über Bauarbeiter, über die Nachbarn oder ihre ersten Kinder, die sie alle begraben musste. Tragödien in Anatolien noch. Immer gab es neue Aspekte, Einzelheiten. Manche Anekdoten wurden in hundert verschiedenen Varianten überliefert – wie das so ist, wenn man erzählt.

Hörten Sie mit der Lohnarbeit auf, als Sie zu schreiben begannen?

Nein, das wollte ich auf keinen Fall. Ich habe nach der Ausbildung zum Feinmechaniker 13 Jahre weiter gearbeitet, drei Jahre in Holland. Als Gabelstapelfahrer jobbe ich noch heute, seit ich den Elif Verlag gegründet habe, geht das nicht mehr in Vollzeit. Aber wenn die Firma Hilfe braucht, fahr ich hin, ist ja nicht weit. Das Literarische habe ich im Grunde genommen ja nie mehr losgelassen – aber die körperliche Arbeit, bei der man schwitzt, brauche ich einfach.

Sind Sie ein Lyriker, ein Schriftsteller, wie es so heißt, mit Migrationshintergrund?

Ich lehne das Wort „Migrationshintergrund“ strikt ab. Ich würde es nie nennen. Ich bin Dinçer Güçyeter aus Lobberich, ich bin hier zur Welt gekommen und möchte nicht in diese Schublade gesteckt sein.

Ist das Schreiben mit den Jahren leichter geworden?

Es hat lange gedauert, bis ich meine eigene Sprache gefunden habe. Heute habe ich immer noch diese Selbstzweifel. Ich frage mich: Wie kann man direkter erzählen, offener erzählen, ohne diese ganzen Umwege, ohne diese ganzen Floskeln und Schnörkel? Jetzt erst merke ich, dass es sehr, sehr schwierig ist, in einfachster Art und Weise Geschichten zu erzählen. Das klappt manchmal bei mir in den Sozialen Medien sehr gut, weil kein Posting noch mal korrigiert wird. Es wird getippt und gepostet. Und so schreibe ich auch. Wenn ich nachher meine Texte noch mal lese, bin ich sehr vorsichtig, was das Schleifen und Polieren angeht, dabei kann sehr viel kaputtgehen. Es war ein schönes Ringen mit meinem Lektor Wolfgang Schiffer gerade bei meinem ersten Roman. Danke an ihn!

Und wenn ein Sprachbild schief gerät?

Dann ist es eben schief oder hinkt. Literatur darf scharfe und unscharfe oder schiefe Bilder zeigen. Das ist kein Weltuntergang. Das macht viele Texte sogar interessanter. Und bei mir klappt es viel besser, wenn die Bilder schief sind.

Hat man Ihnen das vorgeworfen?

Nein, aber früher hieß es, auf Deutsch würde man es anders formulieren. Und meine Frage war dann: Ja, wer hat euch denn gesagt, dass ich es so auf Deutsch formulieren möchte? Es gibt Ausdrücke, es gibt Redewendungen, die ich eins zu eins aus dem Türkischen übernehme, auch die Sprache von meiner Oma oder die Rhetorik von meiner Mutter.

Sie sind in diesem Jahr mit dem Peter-Huchel-Preis für deutschsprachige Lyrik ausgezeichnet worden. Jenseits der Jury wollte Sie vorher niemand auf dem Zettel gehabt haben. Wie ging es Ihnen, als Sie von dieser Auszeichnung erfuhren?

Ich war glücklich. Ich hatte eine Lesung in Würzburg. Am nächsten Morgen stand ich am Bahnhof, da kam die Email, dass ich nominiert bin. Hab ich gedacht, okay, die wollen jetzt auf der Fensterbank noch so’n Schwarzkopf haben. Ist ja nett und schön. Die erste Reaktion von Ayşe, meiner Frau, war: Du hast es verdient. Sie ist manchmal so ganz knapp, was ihre Emotionen angeht. Sie sagte: Freu dich.

Und wie reagierte Ihre Mutter, von deren Leben in Anatolien und in Deutschland ja in Ihrem Roman wesentlich die Rede ist?

Sie sagte: Drei Jahre Pandemie – haben jetzt alle den Verstand verloren? Warum geben sie dir den Preis? Und dann, als sie erfahren hat, dass noch 10.000 Euro mit dem Preis kommen, hat sie gesagt: Nix für Bücher ausgeben. Das Geld gehört den Kindern.

Sie könnten auch stolz sein – ein Gastarbeitersohn, der Feinmechaniker wird, bekommt den Peter-Huchel-Preis zuerkannt. Das wird arrivierte Kollegen und Kolleginnen tüchtig neidisch gemacht haben.

Das mit dem Gefühl von Stolz ist schwierig. Ich bin ja immer noch der Gleiche. Und anders. Ich bin gern in der Fremde, aber glücklich hat mich früher gemacht, als meine erste Lesung hier in der Stadtbibliothek war. Der Saal war voll, und der Bürgermeister sagte auch etwas. Mein Vater ging rum, nicht aufdringlich, aber er ging umher und sagte: „Ich bin der Vater!“ Jetzt bei der Preisverleihung trug mein Sohn Yilmaz die Danksagung mit vor. Hinterher sagte er stolz allen, die es noch nicht wussten: „Ich bin der Sohn.“ Mehr ging in dem Moment nicht.

Fast vier Kilometer laufen wir durch Lobberich. Unentwegtes Grüßen anderer, der Sohn des Städtchens grüßt zurück, er würde vermutlich überall anschreiben lassen können. Im Pärkchen gleich hinter der Fabrik mit dem kleinen Schloss weht es leicht, das Laub raschelt in herbstlich warmer Luft. Er sagt: „In diesem Grün haben wohl alle hier das erste Mal geknutscht.“

Was bleibt nun?

Dass ich mir nicht verzeihen muss, meinen Weg nicht gegangen zu sein. Ich habe ihn probiert, und er trägt. Was aber nicht verschwindet, sind öfters die Minderwertigkeitsgefühle: Darf ich das, was ich gern tue? Aber was soll ich sagen? Ich muss mit ihnen umgehen, sie bringen mich nicht zu Boden.

Wie sehen Sie den Dinçer Güçyeter der früheren Jahre?

Das war einer, der oft in die Stadt fuhr, etwa nach Köln. Der dort viel im und für das Theater gelebt hat. Ich habe auch mal in Istanbul gelebt. Dort hoffte ich, edle Dichter zu treffen, aber wahrscheinlich hätten die mich abgelehnt. Dafür kam ich in einer Wohngemeinschaft unter, künstlerisch, da waren Transvestiten. Eine magische Zeit. Um zu überleben, verkauften sie billige Kopien von Porno-DVDs. Ich erinnere mich auch, dass ich mal nach Hamburg reiste, um eine Tennessee-Williams-Aufführung zu sehen. Die Stadt, in der Wolfgang Borchert sein Stück „Draußen vor der Tür“ angesiedelt hatte. Ein Jahr lebte ich das selbst, draußen vor der Tür. Das war schon wichtig genug, „Endstation Sehnsucht“ ist außerdem mein Lieblingsstück. Ich nahm mir etwas Zeit, um an den Hafen zu gehen und mich in den Wind zu stellen. Einmal wie Hildegard Knef, dachte ich vorher. Zehn Minuten Hildegard Knef sein. Und so geschah’s. Mein Leben ist voller Geschichten. Ein Geschenk.

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