Aus dem Schrank der Schande

Das Massaker von Sant‘ Anna war nur eins unter Zahllosen. Es waren Morde ohne Sinn, denn die Wehrmacht befand sich längst auf dem Rückzug. Von Mai bis Dezember 1944 tötete die SS-Division „Reichsführer SS“ 2.000 wehrlose Zivilisten. Laut Militärhistorikern sollen die Nazi-Schergen insgesamt während der deutschen Besatzung in Italien (1943 bis 1945) täglich 160 Personen getötet haben – Partisanen nicht eingerechnet. Viele Fakten lagen bis 1994 unbeachtet in einem versiegelten Schrank der Militärstaatsanwaltschaft Rom. Sein Inhalt: knapp 700 Aktenbündel der Alliierten, die detaillierte Informationen über die Gräuel von SS und Wehrmacht während der deutschen Besatzung enthielten. Der Kalte Krieg, die Beziehungen zu Deutschland und die Ausblendung der eigenen italienischen Kriegsverbrechen dürften zur Missachtung der Papiere geführt haben. Die Öffnung des „Schranks der Schande“ führte zu den Verfahren gegen den ehemaligen SS-Chef von Genua, Friedrich Engel. Das Turiner Militärgericht verurteilte ihn wegen 246 Morden zu lebenslänglich. Das Hamburger Landgericht sprach Engel hingegen „bloß“ wegen 59-facher Geiselerschießung für schuldig. Doch der Bundesgerichtshof hob das Urteil – sieben Jahre Haft, die er nie antrat – im Jahr 2004 auf, da ungenügend geprüft worden sei, ob die „Erschießungen grausam waren“, und stellte das Verfahren ein. AS