Sexy über 60: Iggy Pops nackte Brust und ich

Jenseits der sechzig ist der Körper angenehm nichtbinär. Vorbei die heteronormative Zwangssexyness. Wir sind subversiv, ohne etwas dafür zu tun.

Iggy Pop reckt eine Faust in den Himmel

Iggy Pop alias Jim Osterberg in Mantova in Italien im August 2022 Foto: Alessio Tarpini/ipa-agency/imago

Bodyshaming mit 66! Kann man sich selbst geben. Freie Selbstruntermache für alle. Ich hab für so was keine Zeit mehr. „Problemzone Oberarm“ las ich mal über den alternden Körper und dass man dringend Gewichte ziehen müsse, wenn die Oberarme wabbeln, um „etwas gegen die Alterserscheinungen zu tun“. Tja, viel Spaß. Jeder Kampf ist schon entschieden, bevor er begonnen hat, sagen die Zen-Buddhisten.

Ich mach es anders: Ich bin zur Kleptomanin geworden. Ich klau mir meine Wertesysteme zusammen von Männern, Frauen, sehr Alten und sehr Jungen, alles, was nicht niet- und nagelfest ist und mir gefällt. Iggy Pop alias Jim Osterberg ist ein Punkrocksänger, den ich vor 45 Jahren mal in meinem alten VW-Käfer in Berlin vom Café Anderes Ufer zu seinem Koksdealer kutschierte. Osterberg rennt mit über 70 immer noch mit nacktem Oberkörper über die Bühne und singt: „I’m a passenger“. Seine Arme sind ein Alterskunstwerk, man sieht jede Falte, jede Ader, und Osterberg zeigt auch diese kleinen Brüste, die alte Männer manchmal entwickeln.

Osterberg ist cool. Und ist er nicht ein Beweis dafür, dass sich auch Frauen alles leisten könnten, wenn sie nur wollten? Ich bin neuerdings ein Anhänger des Nicht-mehr-so-Binären und deswegen auch den Millennials zu Dank verpflichtet. Weil sie die Zwangssexyness im Heteronormativen nicht mehr für das Nonplusultra halten und den Bestseller „Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus“ nicht mal mehr vom Hörensagen kennen.

Das mit der kritischen Haltung zum Binären kommt nicht nur von der aktuellen Hormonlage. Man kehrt mit 66 mental zur frühen Jugend und zur Kindheit zurück. Ich wollte ganz früher immer ein Junge sein. Nicht wegen eines „Penisneids“, sondern weil sich die Jungs im Kindergarten an Fasching den Körper bemalen und mit Holzschwertern bewaffnet brüllend durch die Gegend rennen durften, während mir die kirchlichen Kindergärtnerinnen das Tragen eines Petticoats und das Spiel mit Puppen nahelegten. Wobei es später dann auch Vorteile gab in den diversen Frauenrollen, man versuchte natürlich, ehrlicherweise, die Rolle zum eigenen Besten zu gestalten.

Wir sind so subversiv, dass es niemand bemerkt

„In der Fantasie können wir uns jetzt alle Vorbilder aussuchen, die wir toll finden, und den Rest einfach in den Müll kippen“, sagt meine Freundin Hille. Sie pickt mit dem Greifer eine leere Chipstüte auf. Wir laufen über das Tempelhofer Feld, ich habe ihr meinen klappbaren Greifer geliehen. Manchmal nehme ich den mit auf Spaziergänge und sammele Müll. Es fühlt sich irgendwie sinnvoll an, wenn man die Umgebung ein bisschen verschönern kann.

Meine Tante Zilly sagte immer, jetzt, mit 85 Jahren, sei sie ganz frei in der Öffentlichkeit, weil eh niemand mehr auf sie achte. „Ist das jetzt gut oder schlecht?“, frage ich. „Es gibt immer etwas Gutes im Schlechten“, sinniert Hille. Schade, dass niemand bemerkt, wie subversiv wir sind.

Aber vielleicht ist das genau der Witz.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Redakteurin für Sozialpolitik und Gesellschaft im Inlandsressort der taz. Schwerpunkte: Arbeit, soziale Sicherung, Psychologie, Alter. Bücher: "Schattwald", Roman (Piper, August 2016). "Können Falten Freunde sein?" (Goldmann 2015, Taschenbuch).

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.