Salz, Broiler, Atommüll

Das einstige Kalibergwerk Morsleben in Sachsen-Anhalt hat viel zu erzählen: Heute lagern hier radioaktive Fässer

Heute lagern hier Atommüllfässer: Endlager Morsleben Foto: Thomas Imo/photothek/imago

Von Reimar Paul

Erst Salz, dann Nazijets und Hähnchen, nun lagern fast 37.000 Kubikmeter schwach- und mittelradioaktiver Atommüll in rund 480 Metern Tiefe nahe der einstigen deutsch-deutschen Grenze: Das Endlager Morsleben in Sachsen-Anhalt hat eine bewegte Geschichte. Ab Ende des 19. Jahrhunderts wird hier Kalisalz für die Landwirtschaft abgebaut. Später auch Steinsalz, das als „Sonnensalz aus Bartensleben“ in den Handel kommt.

Die Nationalsozialisten nutzen das Bergwerk militärisch. Görings Luftwaffe lagert ab 1937 Flugzeugmunition in einem der Schächte. Ab Februar 1944 dient die Anlage der Rüstungsproduktion – und als Außenlager des KZ Neuengamme. Häftlinge und Zwangsarbeiter müssen Bauteile des Strahlflugzeugs Me 262 und von Raketen zusammensetzen.

Zwischen 1959 und 1984 züchten DDR-Agrarbehörden im Schacht Marie zwischen 1959 und 1984 Zehntausende Broiler. Durch An- und Abschalten des Lichts werden den Tieren um eine Stunde verkürzte Tage vorgegaukelt, wodurch sie schneller wachsen sollen. Andere Kammern dienen der Zwischenlagerung giftiger chemischer Abfälle.

1970 fällt nach einem Vergleich mit zehn weiteren Bergwerken die Entscheidung, Morsleben zum Endlager für schwach und mittelradioaktive Abfälle umzubauen. Ein Jahr später werden „versuchsweise“ – das vorgebliche „Versuchsendlager“ Asse in Niedersachsen lässt grüßen – erste Abfälle eingelagert, 1973 erfolgt die offizielle Benennung des Standorts. Die 1986 erteilte unbefristete Betriebsgenehmigung ist bis heute wesentliche Grundlage für den Betrieb des Endlagers. Den hoch­radioaktiven Atommüll aus ihren AKW führt die DDR in die Sowjetunion zurück. Mit der Vereinigung geht das Endlager in den Besitz der Bundesrepublik über. Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) wird Betreiber.

Auf die bereits dort lagernden rund 14.400 Kubikmeter schwach- und mittelradioaktiver Abfälle werden zwischen 1994 und 1998 unter Verantwortung der damaligen Umweltministerin Angela Merkel (CDU) gut 22.000 Kubikmeter draufgepackt. Das Oberverwaltungsgericht Magdeburg stoppt die Anlieferung weiteren Atommülls aber 1998.

Ähnlich wie in der Asse ist die Einlagerung auch in Morsleben unter teilweise haarsträubenden Bedingungen erfolgt. Flüssige radioaktive Abfälle wurden auf eine Schicht Braunkohlenfilterasche versprüht, große Mengen sickerten bis in die tiefen Schichten des Bergwerks. Feste radioaktive Abfälle wurden zum Teil lose oder in Fässern in Einlagerungshohlräume gekippt oder gestapelt. Zudem ist – wie in der Asse – das ganze Grubengebäude instabil und vom Einsturz bedroht.

Strecken

Der Bundestag hat am Freitag die Verlängerung der Laufzeiten der drei verbliebenen deutschen Atomkraftwerke Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2 bis Mitte April 2023 beschlossen. 9 Grünen-Abgeordnete stimmten dagegen, 1 enthielt sich.

Suchen

Am Donnerstag gab das Bundesumweltministerium bekannt, dass die Suche nach einem Endlager für radioaktiven Müll nicht wie geplant bis 2031 abgeschlossen werden kann. (dpa)

Mit Getöse kracht im Herbst 2001 ein Tonnen schwerer Salzbrocken von einer Zwischendecke auf den Boden. Das BfS ordnet Notfallmaßnahmen an und verfüllt mehrere Hohlräume. Anderthalb Jahre später schlägt die Behörde erneut Alarm, große Bereiche der Anlage drohen einzustürzen. Wegen zu schwacher Pfeiler und Zwischendecken bestehe „akute Gefahr für die Standsicherheit“.

Auch in den Folgejahren zeigt sich das Erbe der Vergangenheit in Morsleben deutlich. 27-mal muss Spezialbeton eingesetzt werden, um die Sicherheit zu verbessern. „Ohne diese Maßnahme hätte die fortschreitende Verformung des Gesteins langfristig das wasserundurchlässige Hutgestein zwischen Endlager und Deckgebirge schädigen können“, räumt die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) ein, die 2017 auch für Morsleben die Verantwortung übernommen hat. Tunnelähnliche Verschlussbauwerke sollen die radioaktiven Abfälle zusätzlich schützen, etwa vor dem Eindringen von Wasser.

Morsleben ist das erste deutsche Endlager, das nach Atomrecht und unter Verbleib der Abfälle stillgelegt werden soll. Dafür erprobt die BGE seit Jahren neue Techniken unter Tage, stabilisiert das Bergwerk weiter und hält es offen. Das für die Stilllegung notwendige Genehmigungsverfahren läuft parallel – die Genehmigung wurde noch nicht erteilt. Die Stilllegung des Endlagers wird mehrere Milliarden Euro kosten.