Raketenangriffe auf Westukraine: Durchhalten im Kerzenlicht

Russland greift mit Raketen die Infrastruktur westukrainischer Städte wie Luzk an. Die Bevölkerung gibt sich geduldig und unbeeindruckt.

Feuerwehrmänner auf einer Brandstelle

Ein Bild des Staatlichen Notdienstes zeigt Löscharbeiten nach einem Raketenangriff im westukrainischen Rivne Foto: reuters

LUZK taz | Die Menschen in Luzk hatten sich bislang relativ sicher fühlen können. Doch das änderte sich vor einer Woche, als mehrere Raketen in der westukrainischen Stadt mit rund 210.000 Ein­woh­ne­r*in­nen einschlugen. Man hätte damit rechnen können, dass die Menschen in Panik geraten, hatte doch der letzte Angriff im März stattgefunden. Damals war ein Öldepot zerstört worden. Aber irgendwie schienen die Menschen vorbereitet zu sein, da im Oktober mehrere Städte im Westen der Ukraine unter Beschuss genommen worden waren.

In einer ersten Reaktion stellten sich die Menschen nach Wasser an, da die Explosionen die Wasserversorgung unterbrochen hatten. Dann deckten sie sich mit Kerzen und Ladegeräten ein. Einige verließen für ein paar Tage die Stadt oder zogen zu Bekannten in einen anderen Stadtteil, der von intakten Stromleitungen versorgt wird.

Abends ist es in Luzk jetzt stockdunkel. Straßenlaternen werden in den kommenden Monaten erst bei Einbruch der Dämmerung ein-, aber bereits um 22 Uhr wieder ausgeschaltet.

Sparen ist das Wichtigste. Besonders umtriebige Bür­ge­r*in­nen begannen sogar, dem Bürgermeister von Luzk, Ihor Polischuk, Vorwürfe zu machen, wenn sie zusätzliches Licht im Park oder in einem Schaufenster bemerkt hatten. „Wenn es nötig ist, müssen wir uns gedulden. Aber alle müssen sparen“, schrieben sie Polischuk auf Facebook.

Herbstferien verschoben

Die Schulen in der Ukraine werden bis auf Weiteres nicht geschlossen. Eigentlich sollten dieser Tage die Herbstferien beginnen. Doch sie wurden verschoben, damit die Kinder zur Schule gehen können, solange das warme Wetter das zulässt. In den Bildungseinrichtungen ist die Heizung abgestellt, um Gas für den Winter zu sparen.

In einem Luzker Supermarkt stehen die Kun­d*in­nen nach Kerzen, Tiernahrung und Brot an. Und sie wollen Trockenalkohol kaufen, um darauf Essen oder Wasser erhitzen zu können. Auch Sergei Suprunjuk erledigt gerade seine Einkäufe. „Ich bin nicht in Panik. Sagen Sie mir: Was meinte Putin damit? Drei Raketen abschießen, die Mil­lio­nen kosten. Und das alles, damit Sie und ich zwei Tage lang mit unseren Familien bei Kerzenlicht speisen können? Okay, Putin, du bist ein Romantiker“, sagt er und grinst. Er habe eine der Raketen über seinem Haus auf ein Umspannwerk im Norden von Luzk zufliegen sehen. „Ich hätte das nie gedacht, sie flog in einer Höhe von gerade mal 50 Metern“, sagt Suprunjuk.

Irina Bandura beoachtete den Flug der tödlichen Waffen ebenfalls. Sie ist Spezialistin für Energiefragen und lehrt an der Luzker Universität. Seinerzeit hatte sie eine wissenschaftliche Arbeit über das hiesige Umspannwerk geschrieben, das die russische Armee jetzt zerstört hat. Dieser Tage sind es ihre ehemaligen Studierenden, die die Stromversorgung in der Stadt wiederherstellen.

„An jenem Morgen hatte ich den Bus verpasst und musste auf den nächsten warten. Da hörte und sah ich die Raketen über Luzk. Ich wusste genau, wo sie einschlagen würden“, sagt sie. „Dieses Elektrizitätswerk war schließlich Gegenstand meiner Diplomarbeit. Ich kenne dort alle Schemata auswendig. Als ich das Feuer und den Rauch am Himmel sah, hätte ich alles fotografieren können, aber das habe ich nicht getan. Wenn unsere Enkel groß sind, werden wir ihnen alles über den Krieg erzählen, aber wir ihnen nichts davon zeigen“, sagt Bandura.

Aber da gab es auch andere Fälle. Die Polizei nahm einen Fotografen fest, der mit einer Drohne ein Video über die Folgen der Raketenangriffe in Luzk gedreht hatte. Später postete er das Material in einer geschlossenen Gruppe in sozialen Netzwerken. Der Sicherheitsdienst der Ukraine leitete zwar kein Strafverfahren gegen den Fotografen ein, zwang ihn aber, sich öffentlich zu entschuldigen.

Auch in Kowel schlugen, am selben Tag wie im benachbarten Luzk, Raketen ein. Kowel ist ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt an der Grenze zu Polen und Belarus. Daher versucht Russland, Kowel nicht nur von der Stromversorgung abzuschneiden, sondern auch Züge mit Ausrüstung und Munition aus Europa zu stoppen. Nach dem Beschuss stellten vier Vorortzüge den Betrieb in der Region vorübergehend ein.

Die Beleuchtung in Kowel ist wiederhergestellt, aber von Zeit zu Zeit gehen die Lichter für mehrere Stunden aus. Dies hindert die Stadt nicht daran, das gewohnte Leben fortzusetzen. Auch während des Luftangriffs wurde auf der Entbindungsstation des Krankenhauses gearbeitet. „Ein Junge ist geboren, das Leben geht weiter“, teilte Kowels Bürgermeister Igor Tschaija mit. In einer anderen Klinik wurde eine Herztransplantation durchgeführt. Die Ärzte konnten auf Ersatzgeneratoren zurückgreifen, die die Stadtverwaltung gekauft hatte.

Eine ganze Woche nach den Angriffen auf die Regionen Wolhynien und Rivne war der Strom abgeschaltet. Zeitpläne für Stromsperrungen wurden nicht öffentlich gemacht. Das Unternehmen „Wolynobl­energo“ entschuldigte sich für die plötzlichen Abschaltungen ohne Zeitplan, erklärte jedoch, dass diese Informationen in Zeiten des Kriegsrechts nur eingeschränkt zugänglich seien. In der ganzen Ukraine werden die Menschen aufgefordert, nicht zwei oder mehr leistungsstarke Elektrogeräte gleichzeitig einzuschalten. Waschmaschinen, Boiler oder Heizungen sollen nachts benutzt werden.

Nur 10 Prozent für Zugeständnisse an Russland

Es scheint, dass die Angriffe auf zivile Ziele die Ukrai­ne­r*in­nen nicht erschrecken. Die überwiegende Mehrheit ist davon überzeugt, dass es notwendig sei, Russland weiter zurückzuschlagen. Das belegt eine Umfrage des Internationalen Instituts für Soziologie in Kyjiw (KIIS) von Mitte Oktober. 86 Prozent der Befragten glauben, dass der bewaffnete Kampf fortgesetzt werden sollte, wenn der Beschuss anhält. Nur 10 Prozent finden, dass es notwendig sei, zu verhandeln, um die Angriffe so schnell wie möglich zu beenden, selbst wenn dafür Zugeständnisse gegenüber Russland erforderlich seien.

„Wenn der Zweck der terroristischen Angriffe auf ukrainische Städte für Russland darin besteht, die Menschen in der Ukraine in Panik zu versetzen, sie zu entmutigen und zu einer Kapitulation zu zwingen, dann sehen wir erneut, wie brillant Putin seine Ziele verwirklicht. Der Terror geht weiter und Menschen sterben. Ukrainische Familien sind gezwungen, ihre Abende im Dunkeln zu verbringen. Der Schmerz über Verlust und Zerstörung schüchtert die Menschen jedoch nicht ein, sondern verwandelt sich in Boshaftigkeit und Wut auf die Feinde“, sagt Anton Gruschetski, stellvertretender Direktor des KIIS.

Aus dem Russischen Barbara Oertel

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