Kurdischer Kanton Afrin in Nordsyrien: Eine Bande durch die andere ersetzt

In Syrien kontrolliert nun die militante islamistische HTS-Miliz den Kanton Afrin, dank türkischer Mitwirkung. Das könnte Assad in die Karten spielen.

Ein vermummter Kämpfer mit einem Maschinengewehr - fotografiert durch ein Loch in der Wand einer Hausruine

Ein Kämpfer der Miliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS) in einer Ruine bei Aleppo (Archivbild von 2019) Foto: Anas Alkharboutli/dpa

„Seit Tagen sind viele Menschen zu Hause. Sie dürfen ihre Wohnung nicht verlassen. Die Leute können nicht auf den Feldern arbeiten, dabei ist gerade Erntezeit von Oliven. Das ist ihre Haupteinnahmequelle.“ So beschreibt Kamal Sido die Situation in Afrin, in Nordwestsyrien. Sido ist Nahostreferent bei der Gesellschaft für Bedrohte Völker und in einem Dorf rund 10 Kilometer von der Stadt Afrin entfernt geboren worden. Am Donnerstag hat das extremistische Bündnis Ha’iat Tahrir al-Scham („Komitee zur Befreiung der Levante, HTS) die Kontrolle über den kurdischen Kanton Afrin, nördlich von Aleppo, übernommen.

„In dem Ort aus dem ich stamme, Kursehel, ist eine 75-jährige Frau getötet worden, ein Geschoss hat ihr Haus getroffen. Eine Nachbarin starb ebenfalls. Ein Kind ist verletzt. Und das sind nur die Informationen aus einem Dorf; Informationen, die ich auch überprüfen kann.“ Zurzeit greifen die Kämpfer die Stadt Kafr Janneh an, auf dem Weg ins weiter nordöstlich gelegene Azaz.

HTS ist eine dschihadistische Gruppe, die den Großteil der nordwestlichen Provinz Idlib kontrolliert. Die Vorläuferin von HTS, die al-Nusra-Front, wurde 2011 gegründet, als Verbündete von al-Qaida innerhalb der Opposition gegen das Assad-Regime. Ihr Anführer, Abu Mohammad al-Jolani, konnte schnell eine leistungsfähige Organisation aufbauen, unterstützt durch Geld aus dem Persischen Golf. Heute behauptet die HTS, sie sei völlig unabhängig. Doch die US-amerikanische Regierung stuft HTS weiter als „Vehikel“ von Al-Qaida in Syrien ein.

2018 übernahm die Türkei völkerrechtswidrig die Kontrolle über den kurdischen Selbstverwaltungskanton Afrin, mithilfe der Syrischen Nationalen Armee (SNA), einer von ihr gestützten Rebellengruppe. Bei der „Operation Olivenzweig“ nutzte das türkische Militär unter anderem Leopard-2 Panzer aus Deutschland. In ganz Nordsyrien sind seit der türkischen Militäroffensive „Operation Friedensfrühling“ im Oktober 2019 Bombardements und Drohnenangriffe Teil des Alltags der Menschen. Vertriebenen Kur­d*in­nen wurde die Rückkehr in ihre Heimat und die Rückgabe von Grundstücken untersagt, die von der SNA beschlagnahmt worden waren.

Die HTS konnte nun die Kontrolle über den Kanton Afrin erlangen, weil ihr eine Spaltung innerhalb der SNA nach der Ermordung des Medienaktivisten Muhammad Abdul Latif und seiner schwangeren Ehefrau zu Gute kam. Sie nutzte Gefechte zwischen den zerstrittenen SNA-Fraktionen aus, um ihren Einfluss auszuweiten. Teile der SNA halfen der HTS sogar, indem sie Straßen sperrten und Gebiete an sie übergaben. Am Donnerstag fielen schließlich die Stadt Afrin und mindestens 26 weitere Städte und Dörfer im Südwesten des Kantons in die Hände der HTS.

HTS leistet kaum etwas für die Bevölkerung

Am Freitag zogen ihre Mitglieder durch mehrere Dörfer und Lager von Binnenvertriebenen in Afrin, um ihre Macht zivil zu festigen. PR-Bilder zeigten die Dschihadisten, wie sie mit An­woh­ne­r*in­nen redeten und Brot verteilten. Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation „Adopt a Revolution“ beansprucht die dschihadistische Miliz zwar die Kontrolle über die zivile Verwaltung, doch leistet sie kaum etwas für die Bevölkerung.

Kamal Silo bestätigt das: „Diesen Leuten darf man nicht vertrauen. Wir wissen, was die in Idlib getan haben. Und die Menschen in Afrin kennen Ha’iat Tahrir al-Scham noch als sie al-Nusra-Front hießen. Als sie auf den Straßen, die von Afrin nach Aleppo führten, Kurden wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit entführt haben. Kurdische Aleviten oder Jesiden wurden immer wieder gekidnappt.“

Eine Quelle innerhalb der syrischen Opposition, die nicht namentlich genannt werden möchte, sagte der Deutschen Presse-Agentur, dass sich Mitglieder einiger SNA-Fraktionen aus der Stadt Afrin zurückgezogen hätten, wobei die lokale Polizei und das Militär kampflos in ihren Hauptquartieren blieben. Die Quelle fügte hinzu, dass die Übergabe gemäß eines Abkommens erfolgte, das am Mittwoch während eines militärischen Sicherheitstreffens in der Stadt Azaz geschlossen wurde. Offiziere des türkischen Geheimdienstes und der Armee sowie Führer der Fraktionen, die Nordsyrien kontrollieren, sollen daran teilgenommen und beschlossen haben, dass die verschiedenen SNA-Fraktionen Afrin und sein Umland verlassen sollten.

Sido meint, dass die HTS kein wirklicher Gegner der Türkei sei. Die Rivalität zwischen beiden Kräften sei vorgegaukelt. „Sowohl die Syrische Nationale Armee als auch Ha’iat Tahrir al-Scham werden von Ankara unterstützt. Die Türkei ist überall, der Luftraum in Nordsyrien wird von ihr überwacht, es gibt türkische Basen dort. Ohne die Zustimmung der Türkei hätte Ha’iat Tahrir al-Scham Afrin gar nicht angegriffen. Im Dorf meiner Tante existiert eine türkische Militärbasis, da ist Ha’iat Tahir al-Schams einfach vorbeimarschiert, das Militär hat keinen Widerstand geleistet.“ Für die Menschen vor Ort mache die Übernahme keinen positiven Unterschied. „Es sind alles Islamisten, eine Bande wird durch eine andere Bande ersetzt.“

Unterdessen reiste eine türkische Militärdelegation, darunter der stellvertretende Innenminister Ismail Catakli, der Gouverneur von Gaziantep und Offiziere des türkischen Militärgeheimdienstes, am Mittwoch in die Städte Azaz und Al-Rai und traf sich dort mit Anführern der von der Türkei unterstützten Rebellenfraktionen des östlichen Teil des Gouvernements von Aleppo. Die Quelle aus der Opposition warnte, dass die HTS das nördliche Umland Aleppos unter Kontrolle bekommen könnte.

„Weil Ha’iat Tahrir al-Scham aber offiziell als Terrorgruppe eingestuft ist, könnten Assad und Putin die Gruppe unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung angreifen. Damit hätte Assad wieder die Hoheit über die kurdischen Gebiete, unter indirekter Mitwirkung von Erdoğan“, spekuliert Sido.

Dies hätte wiederum weitreichende Folgen für die Hilfslieferungen in den Norden Syriens. Im Januar 2023 läuft das Mandat der Vereinten Nationen für Lieferungen über Bab el-Hawa, den noch einzigen offenen Übergang an der türkisch-syrischen Grenze, aus. Immer wieder versucht Russland als Verbündeter von Machthaber Assad, die Hilfslieferungen zu beenden und damit das syrische Regime zu festigen.

„Putin könnte sagen, dass das Gebiet in der Hand von Terroristen sei und mit dieser Begründung Hilfslieferungen stoppen“, so Sido. Die Türkei, fügt Sido hinzu, arbeite auch in der Afrin-Frage sehr eng mit Russland zusammen. „Und die Türkei bekommt Rückendeckung von der Nato. Es gibt keine einzige Verurteilung der Nato von den Drohnen-Morden der Türkei in Nordsyrien“, kritisiert der Afrin-Experte.

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