Lange Haftstrafe für NSU-Drohserie gefordert

Staatsanwaltschaft macht arbeitslosen Informatiker Alexander M. für 83 Drohschreiben verantwortlich. Eine Mitbeteiligung von Polizeibeamten bleibt aber unklar

Angeklagter und mutmaßlicher Verfasser der NSU-2.0-Schreiben Foto: Fo­to:­ Boris Roessler/picture alliance

Aus Frankfurt am Main Christoph Schmidt-Lunau

Sieben Jahre und sechs Monate Haft forderte die Staatsanwaltschaft für den Angeklagten Alexander M. vor dem Frankfurter Landgericht. Unter anderem wegen Beleidigung, Volksverhetzung, versuchter Nötigung, der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und eines tätlichen Angriffs auf Polizeibeamte.

Es gebe keine vernünftigen Zweifel daran, dass der arbeitslose 54-jährige Berliner, der seit Mai in Untersuchungshaft sitzt, alleiniger Urheber der „schrecklichen und unsäglichen“ Mails unter dem Absender NSU 2.0 sei. Mit Morddrohungen, rassistischen und sexistischen Beleidigungen habe er vom August 2018 bis zu seiner Verhaftung RechtsanwältInnen, PublizistInnen, Linken-PolitikerInnen und andere öffentliche Personen und Institutionen bedroht, so Staatsanwalt Sinan Akdogan in seinem Plädoyer. Mit der Nutzung privater Daten, die er sich über unberechtigte Abrufe bei der Polizei beschafft hatte, sei er auch für den entstandenen Vertrauensverlust in Staat und Polizei verantwortlich. Nach dem Auffliegen rechter Chatgruppen in der hessischen Polizei hatte sich der Verdacht zeitweise gegen Polizeibeamte gerichtet.

Sämtliche Drohmails gegen die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız, mit der die Drohserie am 2. August 2018 begann, rechnet die Staatsanwaltschaft allein dem Angeklagten zu. Die Nebenklage macht dagegen für das erste Schreiben den Polizeibeamten Johannes S. verantwortlich, der im August 2018 im 1. Frankfurter Polizeirevier im Dienst war, als personenbezogene Daten der Rechtsanwältin abgerufen worden waren. Für dessen Täterschaft gebe es keinerlei Anhaltspunkte, argumentierte Staatsanwältin Patrizia Neubert. Trotz der auf seinem Computer installierten Löschtools und Verschleierungssoftware hätten Sachverständige und Computerexperten dagegen ausschließlich auf seinen Festplatten Fragmente der Drohmails gefunden, die unter NSU 2.0 versandt wurden. M.s Erklärung, er habe die Texte aus einem Forum im Darknet heruntergeladen, wertet die Staatsanwaltschaft als Schutzbehauptung.

Vor der NSU-2.0-Serie hatte M. schon mehrfach Morddrohungen gegen PublizistInnen und PolitikerInnen verschickt. Zuletzt traf es im Jahr 2017 einen Anwalt mit Migrationshintergrund aus Würzburg, der wie Başay-Yıldız einen Mandaten mit Migrationshintergrund vertrat. Das eingeleitete Strafverfahren gegen M. war ohne Schuldspruch am 23. 7. 2018 beendet worden. Wenige Tage danach begannen die Morddrohungen gegen Başay-Yıldız. „Er hat sich sicher gefühlt“, so Neubert. Für die Serie habe er unter NSU 2.0 russische Server und Tor-Browser im Darknet genutzt, um seine Spuren zu verwischen.

Ausführlich erinnerte Staatsanwalt Akdogan an das Leid der Betroffenen und ihrer Familien. Angst und Schrecken habe der Angeklagte verbreitet. Die Drohungen hätten auch die geschockt, zu deren Berufsrisiko Bedrohungen gehören: brutale Sprache, Verweise auf den Holocaust und NS-Methoden. Nahezu alle Adressaten sorgten sich um die eigene Sicherheit, um die ihrer Kinder und anderer Angehöriger. Zehntausende Euro mussten sie in die Sicherung von Privatwohnungen und Büros investieren. Sie erlebten berufliche Beeinträchtigungen, etwa wenn sie Auftritte durch Security absichern mussten. Bei einigen der Betroffenen war die Not so groß, dass sie therapeutische Unterstützung benötigten.

Ob RechtsanwältIn, taz-Kolumnistin, Linken-Politikerin, Gerichtspräsidentin, Fernsehmoderatorin oder LKA-Sachbearbeiter, alle AdressatInnen der Drohbriefe hätten unter den „massiven Folgen“ gelitten. Zudem habe der Verdacht, dass Polizeibeamte in die Affäre verwickelt sein könnten, zusätzlich zur Verunsicherung beigetragen. Am 27. Oktober spricht die Verteidigung, Anfang November wird das Urteil erwartet.