Demonstrationen im Iran: Die neue Revolution

Proteste sind im Iran eigentlich ein Dauerzustand. Doch was gerade passiert, hat eine völlig andere Qualität.

Illustration: Eine Schere mit abgeschnittenen Haaren

Illustration: Katja Gendikova

„Weg mit dem Diktator!“, rufe ich. Damit ist Ajatollah Chamenei gemeint. Ich will den Menschen im Iran heute zeigen, dass ich sie in ihrem Kampf gegen die Unterdrückung der iranischen Regierung unterstütze. Auch für mich ist das gefährlich. Als iranische Staatsangehörige kann ich dafür schon am Flughafen im Iran verhaftet werden, wenn ich das nächste Mal meine Familie besuchen will.

Das ist aber nichts gegen das Risiko, das die Menschen vor Ort, auf den Protesten eingehen. Die riskieren ihr Leben. Ich frage mich: Hätte ich mein Gesicht mit einer OP-Maske verdecken sollen? Es gab bereits einige deutsche Städte, in denen Spitzel der iranischen Regierung auf Demos gesichtet wurden. „Niemand trägt hier Maske, es wird schon nichts passieren“, beruhige ich mich. Sicher einreisen kann ich jetzt wahrscheinlich sowieso nicht mehr.

In den letzten Wochen habe ich in den sozialen Netzwerken mehrfach Fotos und Videos geteilt, die das brutale Vorgehen der Regierung gegen die Protestierenden im Iran dokumentieren. Zuletzt hatte ich einen Text über Iran für die Süddeutsche Zeitung geschrieben. Auf meinem Handy erscheint plötzlich eine Nachricht von meinem Vater: „Dein Artikel ist jetzt auf einer iranischen Internetseite, natürlich von Regimegegnern. Mach dir keine Sorgen, ich kann auch nicht mehr dahin fliegen, weil ich dein Vater bin.“ Mir gefriert das Blut in den Adern beim Lesen dieser Zeilen.

Ich klicke auf den Link, den er mir geschickt hat. Die iranische Seite hat Passagen aus meinem ­Artikel auf Farsi übersetzt. Glückwunsch, könnte man meinen. Doch ich schaue mich jetzt auf der Demo genauer um: Wer ist eigentlich der Mann dahinten, der uns filmt? Wo ist eigentlich die Polizei?

Wann wird es sich gelohnt haben, meine Familie zu gefährden? Wenn das Regime gestürzt ist? Hat es sich jetzt schon gelohnt? Durch Beiträge, Artikel und Demos hier in Deutschland trage ich, tragen wir doch dazu bei, dass die Proteste im Iran groß werden. Die Aufmerksamkeit hierzulande nutzt ihnen. Es sind die größten Proteste seit der Grünen Bewegung 2009.

Ja viele sagen sogar: „Das sind keine Proteste, das ist eine Revolution!“ So rufen es die Menschen auf den Straßen Irans. Sie haben recht. Was aber macht diese Proteste anders als alle zuvor?

Im Iran ist niemand frei – deswegen protestieren jetzt alle auf der Straße. Alle, das heißt: alle ökonomischen Schichten, alle Geschlechter, alle ethnischen und religiösen Gruppen, Menschen jeden Alters.

Im Iran ist niemand frei – deswegen protestieren jetzt alle auf der Straße

Außerdem neu ist, dass die Proteste zum ersten Mal landesweit in dieser Dimension stattfinden und nicht mehr nur in einzelnen Provinzen. Die vielen Menschengruppen im Iran gehen zwar alle aus individuell unterschiedlichen Gründen – aber alle mit dem gleichen Ziel – protestieren: Sie wollen das Ende der Islamischen Republik.

Proteste sind im Iran nichts Neues. Im ersten Halbjahr 2022 gab es bereits über 2.000 Proteste. Ja, man könnte sagen, Proteste sind im Iran Dauerzustand. Einige haben es geschafft, sich in der Geschichte einen Namen zu machen. Im Jahr 1999 waren es hauptsächlich die Studierenden, die auf der Straße waren. Sie protestierten damals gegen die Abschaffung einer regimekritischen Zeitung. Rückblickend werden diese Proteste deswegen „Studentenproteste“ genannt.

Als Ahmadinedschad 2009 wieder Präsident wurde, ging hauptsächlich die intellektuelle Mittelschicht gegen seine Wiederwahl auf die Straße. „Where is my vote?“, war das Motto, Wahlbetrug der Vorwurf, der im Raum stand. Die Ira­ne­r:in­nen wollten keinen Hardliner mehr an der Spitze des Landes, sie wollten einen Reformer. Diese Entscheidung obliegt im Iran allerdings nicht dem Volk, der Souverän ist der religiöse Führer Ajatollah Chamenei. Die Wirtschaftssanktionen gegen Iran trafen 2019 nicht wie geplant die iranische Führungselite, sondern die Zivilbevölkerung.

Ich habe das gesehen, als ich im August 2019 im Iran war. Gelegentlich gab es keine Kartoffeln mehr. Meine Tante ärgerte sich dann beim Einkaufen darüber, entschied sich dann dazu, etwas anderes zu kochen. Die Wirtschaftssanktionen trafen sie nicht so hart, denn sie hatte Geld. Aber was war mit den Menschen, die nicht so wohlhabend waren? Schon damals musste man jahrelang auf ein neues Auto warten, wie zu DDR-Zeiten in Ostdeutschland. Was war mit den Menschen, die nicht einmal von Luxusgütern zu träumen wagten, ja die nicht einmal mehr die medizinische Versorgung ihrer Familienmitglieder finanzieren konnten? Die gingen im November 2019 auf die Straße. Und heute?

Wer damals noch um Reformen gebeten hat, schreit heute: „Wir wollen die Islamische Republik nicht mehr!“ Es geht längst nicht mehr um Wahlbetrug, längst nicht mehr um eine wirtschaftliche Misslage, auch nicht um die Abschaffung der Sittenpolizei oder die Kopftuchpflicht. Die Menschen im Iran stellen die Systemfrage.

Exil-Iraner wissen genau – wenn sie wirklich wieder sicher einreisen möchten, um ihre Familien zu besuchen, dann geht das nur so: Die Menschen im Iran müssen gegen das Regime gewinnen

Und das Regime antwortet – mit weitaus stärkerer Aggression als je zuvor. Diese Aggression ist aber Ausdruck wachsender Angst. Die Protestierenden werden mit Tränengas befeuert und erschossen, sie werden getasert und verprügelt. Damit diese Bilder nicht an die Öffentlichkeit gelangen können und sich die Protestierenden schwieriger organisieren können, hat die iranische Regierung das Internet landesweit gedrosselt. Das letzte Mal hat sie das bei den Novemberprotesten 2019 gemacht. In dieser Zeit haben Menschenrechtsorganisationen über 1.500 Tote verzeichnet, die Dunkelziffer liegt natürlich weitaus höher. Da die Proteste mittlerweile schon seit fast drei Wochen andauern und die Intensität kein Ende zu nehmen scheint, werden diese Zahlen wohl diesmal übertroffen werden. Die Gewaltbereitschaft des Regimes nimmt zu.

In Zahedan, in der Provinz Sistan und Belutschistan, hat die iranische Revolutionsgarde am 30. September von oben aus Hubschraubern auf die Menschen geschossen. Auch das: ein Novum. Bis dahin wurde nur vom Boden aus geschossen. Auch die Hauptquartiere der kurdischen Parteien Irans sind im Irak von Drohnen und Raketen der iranischen Regierung angegriffen worden. Hunderte Tote, unzählige Verletzte. Die Bilder zeigen kriegsähnliche Zustände. Es ist ein Krieg gegen die eigene Bevölkerung.

Was wird passieren, wenn die iranische Regierung das Militär gegen die eigene Bevölkerung einsetzt? In einem Video, das ein persischsprachiger Fernsehsender aus London (Manoto) auf Instagram gepostet hat, wendet sich ein hochranginger Marineoffizier direkt an Hossein Ashtari – jenen Kommandeur der Polizei, der vor einigen Tagen die Sicherheitskräfte gegen die protestierenden Menschen aufgehetzt hatte. Der Marineoffizier zeigt dabei sein Gesicht und trägt seine Uniform. Und er stellt klar: Wenn das Militär zu den Protesten hinzugezogen werden sollte, dann stünde er auf Seiten der Bevölkerung. Er werde nicht auf unschuldige Menschen schießen.

Auch das ist neu, sehr beeindruckend und zeigt, dass es derzeit um mehr, viel mehr geht als bei den vorherigen Protesten. Wenn sogar ein ranghoher Offizier des iranischen Militärs seine persönlichen Überzeugungen offenlegt, in einem diktatorischen System, das ihn dafür sofort hinrichten lassen könnte, dann hat das alles eine neue Qualität.

Und was hat sich hier in Deutschland verändert im Vergleich zu den Protesten davor? Auf jeden Fall die Tatsache, dass wir darüber sprechen. Die 2.000 Proteste, die dieses Jahr bereits im Iran stattgefunden haben, haben bei Weitem nicht die mediale Aufmerksamkeit gefunden wie die Proteste jetzt.

Als in Abadan ein Hochhaus eingestürzt ist und die Menschen sich von den iranischen Behörden im Stich gelassen gefühlt haben, als die Provinz Khuzestan vom Missmanagement der Regierung und vom Klimawandel so stark getroffen war, dass sie mit der schlimmsten Dürre seit 50 Jahren zu kämpfen hatte, hörte man in unseren Medien kaum etwas darüber. Jetzt schon, zwar zeitverzögert und oft lückenhaft, zwar oft mit zweifelhaft verharmlosendem Vokabular, das teils fälschlicherweise von „Kopftuch-Unruhen“ spricht, aber es wird berichtet.

Ein entscheidender Unterschied zu den vorherigen Protesten ist außerdem, dass sie heute auf mehr Solidarität stoßen als in der Vergangenheit. Während der Grünen Bewegung 2009, den bis dato größten Protesten, gab es in Deutschland vereinzelte Demonstrationen. Jene, die sich nicht trauten, auf die Straße zu gehen, solidarisierten sich beispielsweise, indem sie ein grünes Armband trugen. Grün, die Farbe der Hoffnung, die Farbe der Grünen Bewegung.

Diesmal haben am 1. Oktober Menschen in über 150 Ländern demonstriert in Solidarität mit den Iraner:innen. Obgleich das Internet gedrosselt wurde, veröffentlichen die Menschen im Iran unter Lebensgefahr Fotos und Videos der Geschehnisse vor Ort. Sie werden hier in den sozialen Netzwerken ­geteilt, auch das war während der Grünen Bewegung 2009 in dieser Dimension noch nicht möglich. Kaum jemand hatte damals Twitter, Instagram hat zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht existiert.

Über die sozialen Netzwerke vernetzt sich auch die iranische Diaspora, und die ist heute lauter denn je. Es werden Texte geschrieben und Beiträge gelikt, Posts verbreitet und öffentlich mit Klarnamen kommentiert. Noch vor ein paar Wochen wäre das für viele undenkbar gewesen. Zu groß war die Angst, bei der nächsten Einreise inhaftiert zu werden. Aber der Wille, den eigenen Familien im Iran gegenüber solidarisch zu sein und sie in ihren Kämpfen zu unterstützen, ist bei vielen mittlerweile größer als die Angst. Denn sie wissen ganz genau – wenn sie wirklich wieder sicher einreisen möchten, um ihre Familien zu besuchen, dann geht das nur so: Die Menschen im Iran müssen gegen das Regime gewinnen.

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